Hörend ins Offene

Am Luzerner Theater beginnt die Intendanz von Benedikt von Peter mit Luigi Nonos «Prometeo». Der neue Hausherr verwandelt den Theaterraum in einen architektonisch spektakulären Hörraum.

Tobias Gerber
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«Prometeo». Eine Tragödie des Hörens von Luigi Nono. (Bild: David Röthlisberger / Luzerner Theater)

«Prometeo». Eine Tragödie des Hörens von Luigi Nono. (Bild: David Röthlisberger / Luzerner Theater)

Dass er sich mit dem geregelten Hören und Sehen herkömmlicher Theaterräume nicht begnügt, hat Benedikt von Peter in den vergangenen Jahren vielerorts gezeigt. Schon zu seiner Zeit am Theater Bremen, an dem er in den vergangenen vier Jahren als künstlerischer Leiter der Musiktheatersparte wirkte, holte er auf der Suche nach anderen Räumen etwa bei Wagners «Meistersingern» das Orchester aus dem Graben in die Sichtbarkeit der Bühne und verlagerte die Szenen von Kurt Weills «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» ins Foyer und in die Ränge des Theaters.

Es überrascht daher nicht, dass der neue Intendant des Luzerner Theaters seine erste Saison mit dem Motto «Neue Räume» überschreibt – und es erfreut umso mehr, dass er mit dem ebenso klangsinnlichen wie sperrigen «Prometeo» von Luigi Nono in seiner ersten Luzerner Produktion sogleich entschieden das Risiko sucht.

Für die Uraufführung von Nonos «Prometeo» im Jahr 1984 entwarf der italienische Architekt Renzo Piano eine an den Innenraum eines Schiffes erinnernde Architektur, die in die säkularisierte Kirche San Lorenzo in Venedig gebaut wurde. Der imposante, Bühnen- wie Zuschauerraum umfassende Holzeinbau im Luzerner Theater nimmt darauf lose Bezug, ist aber gleichzeitig unverkennbar vom kreisförmigen Globe-Theater der Shakespeare-Zeit inspiriert.

In der Mitte, auf Stühlen und Matratzen placiert, teilt sich das Publikum einen – wie von Peter dies im Programmheft nennt – «egalitären Raum», der weder durch eine vorgegebene Blickrichtung noch durch eine bevorzugte Hörposition definiert ist. Umgeben von den Musikern in den Rängen – das sind: vier Orchestergruppen, Chor, zwei Sprecher, zwei Dirigenten, fünf Gesangs- und verschiedene Instrumentalsolisten –, fühlt man sich als Zuschauer gleichsam beobachtet, wie umgekehrt die Situation die eigene Lust am Beobachten nährt, und die im ganzen Raum lokalisierten Klänge laden den Zuhörer zum genauen Hinhören ein.

Es ist eine offene und instabile Situation, die Nono kompositorisch gestaltet hat und die der Regisseur in Luzern aufrechterhält. Textfragmente von Aischylos über Hölderlin bis Walter Benjamin, teilweise nur als reines Klangmaterial verwendet und nicht auf akustische Sprachverständlichkeit hin eingesetzt, sowie der unerschöpfliche Reichtum an fein differenzierten Klängen erfordern nicht nur ungemeine Konzentration beim Hören über die Dauer von gut zweieinhalb Stunden, sondern ebenso eine permanente Orientierung im Geschehen.

«Wisse: Obgleich sehend sahen sie nicht; obgleich hörend hörten sie nicht, die Menschen», heisst es im Libretto, und darin liegt der Kern von Nonos «Prometeo», einer «Tragödie des Hörens», wie das Stück im Untertitel heisst: eine geschärfte und veränderte Wahrnehmung als Ausgangspunkt für einen veränderten Weltbezug, für eine Hin- und Zuwendung zu jenem «Offenen», das eine von den Ruinen der Vergangenheit befreite Zukunft darstellt.

Doch wo Nono im «Prometeo» seine Musik der Wahrnehmung des Einzelnen überantwortet und den betörenden Klängen ein wach hörendes Subjekt gegenüberstellt, da schaffen Benedikt von Peter und die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger eine unausweichliche soziale Situation: Kurz vor Beginn der Vorstellung ist es nur schwer vorstellbar, dass in diesem Raum jemals eine angemessene Konzentration entstehen kann. Obwohl ausverkauft nur mit 250 Zuschauern belegt, wirkt dieser Raum sehr voll. Hör- und Sichtfeld schliessen die anderen Zuschauer ein, deren Bewegungen und Posen der eigenen Fokussierung immer wieder entgegenarbeiten. Das musikalische Hören ist prekär, muss sich durchsetzen gegenüber dem Aussen der räumlich-szenischen Anlage. Und wenn sich im Verlauf der ersten halben Stunde ein konzentrierter Hörraum aufbaut, so erscheint dies – ironisch gegen Nonos Innerlichkeit gewendet – vor allem eine kollektive Leistung der Zuhörenden zu sein.

Der Luzerner Globe soll der kleinste Raum sein, in dem der «Prometeo» jemals aufgeführt wurde. Tatsächlich ist das Klangbild darin noch in den leisesten Stellen sehr präsent. Umso mehr tritt das präzise und pointierte Spiel der Musiker unter der Leitung von Clemens Heil und Matilda Hofman hervor. Zusammen mit dem Experimentalstudio des SWR (Raumklangkonzept: Detlef Heusinger) schaffen sie besonders im mittleren Drittel des Stücks immer wieder irritierende Klangaggregate, in denen sich die einzelnen Instrumentalklänge mischen, ineinander übergehen und mehrdeutig werden. Dass dieses Geschehen zweimal unterbrochen wird, so dass das Publikum aufstehen, sich kurz bewegen und die Position im Raum wechseln kann, mag im ersten Moment etwas verwirren. Es zeigt sich darin aber auch das Bemühen von Peters, das Publikum mit neuen Anreizen herauszufordern, aber nicht zu überfordern.