Ein freies Volk von Engeln

Der ganze «Faust» muss es sein: Die Festspiele Baden-Baden zeigen in einer musikalisch wegweisenden Neuproduktion von Arrigo Boitos Goethe-Oper «Mefistofele» den Himmel auf Erden.

Michael Stallknecht, Baden-Baden
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Leben in sterblicher Hülle: Alex Penda (Gretchen), Erwin Schrott (Mephisto) und Charles Castronovo (Faust). (Bild: Andrea Kremper)

Leben in sterblicher Hülle: Alex Penda (Gretchen), Erwin Schrott (Mephisto) und Charles Castronovo (Faust).
(Bild: Andrea Kremper)

Aus höchster Höhe tönt der Chor seliger Knaben, aus der Tiefe flehen Büsserinnen, und dazwischen jauchzen die himmlischen Heerscharen «in Brudersphären Wettgesang»: Kein Komponist in der Operngeschichte hat dem Himmel glühendere Klanggestalt verliehen als Arrigo Boito in der Eröffnungsszene seiner Oper «Mefistofele». Als Boito Goethes «Faust» zum Stoff seiner einzigen vollendeten Oper machte, beschränkte er sich nicht wie die meisten seiner Vorgänger auf die Gretchen-Tragödie, die mit ihrer Mischung aus Liebe und Tod eine operngängige Motivlage bietet. Der selbst literarisch tätige Komponist, später vor allem bekannt als Librettist für Giuseppe Verdis «Otello» und «Falstaff», wollte den ganzen «Faust» – vom Prolog im Himmel bis zu Tod und Verklärung des Titelhelden in der Tragödie zweitem Teil.

Das Ergebnis überdehnte bei der Uraufführung schon aufgrund der Länge alle Kapazitäten des Publikums. Boito strich zusammen und überarbeitete, liess schliesslich ein Gerüst von Bildern übrig, die eher atmosphärische Schlaglichter auf den Stoff werfen als eine geschlossene Erzählung präsentieren. Man mag bedauern, dass die Urfassung verloren ging. Vielleicht fände sie in der Gegenwart endlich ihr Publikum, wie der Beifall bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden zeigt. Obwohl man dort gemeinhin eher auf die bekannten Opernklassiker setzt, packt der in den letzten Jahren auch andernorts immer häufiger gespielte «Mefistofele» das Publikum schon in der Eröffnungsszene.

Dabei plädiert Regisseur Philipp Himmelmann dafür, dass der Himmel leer ist. Sind die Engel erst einmal aus dem Showportal hervorgeschlichen, das Bühnenbildner Johannes Leiacker rund um die Bühne des Festspielhauses gebaut hat, entpuppen sie sich als bleiche Versammlung abgehalfterter Showstars. Und auch die Hölle sind hier nur die anderen beziehungsweise wir selbst.

Zur Walpurgisnacht auf dem Blocksberg zeigt die Inszenierung eine hedonistische Festgesellschaft, die der im Festspielhaus versammelten ziemlich ähnelt. Das ist beides allerdings so banal und pseudoaufklärerisch, dass es von der Musik quasi in actu widerlegt wird. Denn der Philharmonia-Chor Wien, zu Beginn noch vereint mit dem Kinderchor Cantus Juvenum Karlsruhe, gebietet über so viel homogene Klanggewalt, dass sie schon als Engel Szenenapplaus ernten. Als Mächte der Finsternis entfalten sie damit – «Wir tanzen auf den Trümmern der toten Welt» – eine fast apokalyptische Dimension.

Unterstützung dafür liefert im Graben der Dirigent Stefan Soltesz, der die Wogen der Überwältigung in klugen Steigerungen anlegt. Aber sein Dirigat lässt auch Zeit für das Leise, Dunkle, Langsame – er setzt Tempi überhaupt zueinander in subtile Relationen. Damit schafft Soltesz einen Raum, in den hinein die Münchner Philharmoniker einen wunderwarmen Gruppenklang und makellos gespielte Soli giessen können. Farben und Atmosphären entfalten sich in betörender Vielgestaltigkeit. Die Münchner Philharmoniker spielen den Abend in italienischer Sitzordnung: Die links vom Dirigenten sitzenden Holzbläser klingen runder, die mittig sitzenden Geigen strahlen direkt in den Zuschauerraum ab. Man lernt an diesem Abend, wie Boito seine Effekte organisiert – nicht wie sein Zeitgenosse, der Klangzauberer Richard Wagner, sondern eher noch wie der ältere Giacomo Meyerbeer, der die Register des Orchesters noch getrennt hält, ihnen aber schlagende atmosphärische Kraft verleiht. Und mehr noch erfährt man von Stefan Soltesz, dass dieser «Mefistofele», mit dem richtigen Dirigenten am Pult, sehr wohl einen starken Formzusammenhalt besitzt und als ästhetische Einheit wirken kann. Eines Einheitsbühnenbildes hätte es dafür gar nicht bedurft.

Von der zweiten Szene an steht nämlich ein riesiger begehbarer Totenkopf auf der Bühne. Über «Faust» erzählt das wenig. Schliesslich hat der Tod sowieso das Hausrecht in fast jeder Oper. Dafür bewegt sich an, in und auf diesem Totenkopf eine Sängerbesetzung, von der man sich eine Neuaufnahme des Stücks vorstellen könnte. Charles Castronovo singt den Faust mit hinreissendem Timbre und vollkommener Italianità: Im differenzierten Rollenporträt des amerikanischen Tenors strömen die Kantilenen sehnsuchtsvoll ins Weite, aber die genaue Diktion verrät zugleich auch den Intellektuellen in Faust. Erwin Schrott als – in der Oper zur Titelpartie arrivierter – Mephistopheles geht da deutlich grobkörniger vor. Er verlässt sich im Zweifelsfall auf die Kraft seines virilen Prachtbaritons. Das zerstörerische Element der Figur verkörpert er damit zweifellos treffsicherer als die diabolische Ironie des Verführers.

Alex Penda, das Gretchen, zeigt besonders in der Kerkerszene ein paar Vagheiten im Stimmsitz. Aber das zählt wenig angesichts der ergreifenden Intensität, mit der sie davon erzählt, wie leicht man aus blosser Naivität durch schiere Überforderung in Mord und Wahnsinn abgleiten kann. Als perfekter Gegenpart ist Angel Joy Blue besetzt, die im zweiten Teil die schöne Helena als Inbegriff sinnlich entgrenzter Weiblichkeit verkörpern darf. Ihr höhensicherer Sopran wird freilich auch der musikdramatischen Vision vom Untergang Trojas gerecht.

Verblüffenderweise wacht da sogar die Regie noch auf und findet ein stimmiges Bild für die Klassische Walpurgisnacht: Ein Greisenchor schleicht in pinkfarbenen Kimonos und Anzügen über die Bühne, während vor ihm eine Reihe bunter Mannequins paradiert (Kostüme: Gesine Völlm). Die heitere Antike als ewiger Laufsteg und ewiges Altersheim zugleich – das sitzt. Und als Faust der schaurig-schöne Traum entgleitet, wartet das Stück sowieso mit seinem genialsten Einfall auf: Das freie Volk, mit dem Faust «auf freiem Grund» stehen möchte, sind niemand anders als die Engel des Beginns. Wo die deutsche Tragödie mit Gesellschaftsutopien von irdischer Besitzlosigkeit experimentiert, setzt die italienische Oper stattdessen auf das katholische Jenseits in konkreter, praller Sinnlichkeit. Und zumindest musikalisch ist die Aufführung tatsächlich der Himmel auf Erden.