Mitten im brodelnden Vulkan

Vorgestern hatte Bernsteins «West Side Story» Premiere am Theater St. Gallen. Der Inszenierung gelingt es, in diesem modernen Romeo-und-Julia-Stoff Gewalt und Liebe virtuos zu verzahnen und die Kraft der Musik unmittelbar umzusetzen.

Martin Preisser
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Kraftvoll-farbige Tanzszenen geben der St. Galler «West Side Story» einen unablässigen Fluss von Lebendigkeit und Lebensfreude inmitten einer Welt voll Hass und Gewalt. (Bild: Andreas J. Etter)

Kraftvoll-farbige Tanzszenen geben der St. Galler «West Side Story» einen unablässigen Fluss von Lebendigkeit und Lebensfreude inmitten einer Welt voll Hass und Gewalt. (Bild: Andreas J. Etter)

Schwarz und düster sieht es auf der Bühne aus. Das grosse Eisengerüst mit schrägen Leitern lässt sich immer wieder nach vorne schwenken. Es ist das Gerüst, auf der Liebe verkündet und Liebe gelebt wird. Gegen Hass und Gewalt, die sich unten auf den dunklen Strassen abspielt: Die St. Galler «West Side Story» startet fulminant, wie eine musikalische Explosion. Der packenden Inszenierung von Melissa King gelingt es, dieses explosive Klima, in dem Gewalt in Sekundenschnelle hochkocht, unentwegt durchzuhalten.

Gewalt nicht beschönigt

In der Darstellung von Gewalt, Kampf, Verletzung und Mord beschönigt diese Inszenierung nichts. Dabei setzt sie nie auf blossen Effekt, sondern kann nachvollziehbar machen, wie gefährlich schnell Hass in Mord umschlagen kann, aber auch wie wenig die Kräfte der Liebe und des Dialogs in einer von Feindseligkeit aufgeladenen Welt bewirken können.

Leonard Bernstein hat mit der «West Side Story» Musik geschrieben, die ein brodelnder Vulkan ist und ein multikultureller Hexenkessel. Diese unbändige Energie, vom Sinfonieorchester St. Gallen unter Otto Tausk packend und aufmerksam umgesetzt, macht sich die Regie zunutze, um diese Musical-Inszenierung mit Non-Stop-Power auszustatten.

Nachvollziehbare Leitmotive

Begeisternd die Tanzszenen, in denen die Kunst der Kostümbildnerin (Magali Gerberon) vielleicht am meisten aufschien. Virtuos, akrobatisch prallt hier amerikanischer Jazz auf Rumba und Mambo, ein Tanzwirbel, der mitreisst und das Gewaltthema des Stücks immer wieder auch aufhellt. Wie Bernstein seine kochende Musik den beiden Gangs, den beiden Welten der Amerikaner und der Puerto-Ricaner perfekt zuordnet, das kann diese Inszenierung glasklar zeigen. Die vielen musikalischen Leitmotive nimmt auch Bühnenbildner Knut Hetzer auf, indem er wenige Szenen nur subtil verändert immer wieder zeigt: Der schwenkbare Balkon (ein Zitat an den Shakespeare'schen Romeo-und-Julia-Stoff in Verona), die Autowerkstatt, die kleine Schneiderei und die Strasse.

In der Autowerkstatt wird psychologisch genau auch der Konflikt zwischen den Jugendlichen mit ihrem verhängnisvollen Schwarz-Weiss-Denken und der älteren Generation (David Steck als Doc) gezeigt, die gegen die Gewaltbereitschaft nichts ausrichten kann. Die kleine Schneiderei steht für romantische Zukunftsträume der jungen Frauen, die am Ende gegen die Gewalt der männlichen Gangs auch nichts ausrichten können.

Gewalt ist schwierig darzustellen. Der Inszenierung gelingt aber der perfekte Grad zwischen starkem Entertainment und klarer Botschaft. Die unheimlich schnellen, virtuosen und überraschenden Kampfszenen, die Messerstechereien und Tritte, das ist echte Musical-Live-Kunst.

Hochbrisant und aktuell

Die gesamte Crew trägt bei dieser thematisch brisanten und auch sechzig Jahre nach ihrer Entstehung hochaktuellen Geschichte zu einem prallen, farbigen und aufrüttelnd-beunruhigenden Musical-Erlebnis bei.

Gesanglich setzt man bei dieser Inszenierung auf Musicalstars mit natürlicher, jugendlicher Ausstrahlung. Und man möchte unbedingt betonen, wie auch in den Nebenrollen grosse stimmliche Genauigkeit und Präsenz herrscht. Die stimmliche Kraft der Hauptrollen symbolisiert wiederum deutlich auch die polare Handlung des Stücks: Lisa Antoni (Maria) und Andreas Bongard (Tony) mit viel lyrischer, ruhiger Kraft symbolisieren die Seite der Liebe und der Versöhnung. Eine strahlend agierende Sophie Berner (Anita) verkörpert überzeugend lateinamerikanisches Temperament. Und Jurriaan Bles (Bernardo) geht ganz in der Rolle des draufgängerischen Gang-Führers auf.

In der schwungvollen, aber genau überlegten Verzahnung von Liebe und Gewalt, von Besonnenheit und Mord, liegt die Hauptqualität dieser Inszenierung. Weiter punktet diese «West Side Story» mit der präzis dosierten Kraft der Musik, mit der die Inszenierung die Handlung bewusst vorantreibt. Und dieses neue St. Galler Musical besticht durch ein grosses Engagement aller Beteiligten bis hin zur kleinsten Rolle. Das Gesamtpaket hat begeistert!