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Karsten Mewes, Edna Prochnik. Foto: Hans Jörg Michel
Karsten Mewes, Edna Prochnik. Foto: Hans Jörg Michel
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Einstürzende Bücherregale oder wenn Gewissheit ins Wanken gerät

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Das Nationaltheater Mannheim beginnt die neue Spielzeit mit Hans Werner Henzes „Die Bassariden“. Ein Bericht von Joachim Lange.

„O Wort, du Wort, das mir fehlt“ – so endet Schönbergs „Moses und Aron“. „O, Bild, das uns fehlt“ – so in etwa beginnt die Inszenierung von Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ in Mannheim. Eine Ansammlung von Menschen, die Gabriele Rupprecht so angezogen hat, wie die, denen man auf der Straße begegnet. Sie stehen erstarrt, während im Graben die große Verunsicherung mit einzelnen pointierten Schlägen beginnt. Denn um dieses Crescendo der Erschütterung von Gewissheiten geht es. Um das vielbeschworene dumpfe Brodeln unter der dünnen Decke der Zivilisation. Was in einer Welt des Individualismus natürlich auf einen inneren Kampf hinausläuft, auf einen Selbsterfahrungstrip, der selbstzerstörerisch werden, ja tödlich enden kann.

Und weil die Bühne von Volker Theile eine Art öffentliche Bibliothek im Breitbandformat ist, die man durch zwei Treppen nach oben in ein imaginäres Freies, vielleicht befreites Unterbewusstsein verlassen kann, ist der Widerspruch von zügelndem Wissen und enthemmter Leidenschaft sozusagen der optische Nenner, auf die Frank Hilbrichs Lesart hinausläuft. Dabei verzichtet er auf alles Historisierende. Es gibt also keinen Palast des Königs Pentheus und schon gar keinen Berg Kytheron auf dem es unter der Ägide des Gottes Dionysos orgiastisch enthemmt zugeht. All das bleibt hier im Rahmen gutbürgerlicher Zweistöckigkeit. Unten detailrealistisch, oben zwischen unsichtbar und als Video oder live gefilmt von Sami Bill beigesteuert.

Der einzig klassische Theatereffekt, auf den auch Hilbrich nicht verzichtet, ist die Verkleidung als Frau, zu der sich Pentheus, von dem ihm inkognito gegenüberstehenden Dionysos verführen lässt, um sich so, vermeintlich unerkannt, unter die bekennenden weiblichen Jünger des Dionysos zu mischen.

Das existenziell Perfide der Rachepläne, mit denen Dionysos ganz Theben mit samt seiner halbgöttlichen Verwandtschaft (seine Mutter Semele und Pentheus’ Mutter Agaue sind Schwestern) vernichten will, schwingt sich in diesem optischen Kontext freilich nicht ins existentiell Grundsätzliche auf, sondern bleibt so überschaubar wie die Auswirkungen des Erdbebens, mit dem Dionysos seine Macht demonstriert. Hier reicht es gerade mal aus, um die Bücherregale einstürzen zu lassen.

Während der allzu brav als harmlose Videograbscherei bebilderten, musikalisch aber voll entfesselten Orgie auf dem Kytheron enthauptet Agaue den eigenen Sohn, den sie im Rausch der Mänaden für einen Löwen hält. Wenn die Damen danach im schmucken Kostüm wie vom Einkaufen mit Plastiktüte in die Welt des Bewussten, also die demolierte Bibliothek zurückkommen, bleiben nur das Erschrecken über den blutigen Inhalt der Tüten und die Flucht in den Wahnsinn. Dass man hier die Konsumorgie und die blutigen Hände einfach als gesellschaftskritisches Statement zusammendenken soll, wäre aber ein zu platter Deutungs(kurz)schluss. Eine Facette der großen Verunsicherung, die zum Umsturz der Verhältnisse und zur Machtübernahme des Dionysos führt, aber ist es. Und das kommt dem gegenwärtig im Lande grummelnden Gefühl näher, als es dem Team noch zu Beginn der Inszenierungsarbeit wohl klar gewesen sein kann. Trotz des Gefühls, dass szenisch einiges an Potential unausgeschöpft bleibt, machen die musikalische Seite und die vokale Ausstattung das mehr als wett.

Dass die Wirkungswucht der historisch psychoanalytischen Melange des Librettos von W. H. Auden und Chester Kallman auch in die bürgerliche Bühnenwelt durchschlägt, liegt an der Intensität, mit der sich alle Protagonisten in ihre Rollen werfen. Das gilt allen voran für die beiden Hauptkontrahenten. Karsten Mewes ist ein zwischen Selbstgewissheit und Zweifel ringender, konditionsstarker Pentheus und Roy Cornelius Smith sein stimmlich strahlendes, verführendes Quasi-Spiegelbild als Dionysos. Aber auch um die beiden herum herrschen der angemessene vokale Luxus, den Henzes Gesangpartien brauchen, um dem flutenden Orchester standzuhalten. Da vertreten Edna Prochnik als stets besorgte und hellsichtige Amme Beroe, Heike Wessels als Agaue sowie Vera-Lotte Böcker als deren Schwester Autonoe den weiblichen Part der Protagonisten ebenso überzeugend wie der stimmgewaltige Sebastian Pilgrim den alten Kadmos, Raphael Wittmer den blinden Seher Teiresias und Thomas Berau den Hauptmann der Wache den Part der übrigen Männerstimmen höchst überzeugend. Unter der Leitung von Rossen Gergov schließlich läuft auch das Orchester des Nationaltheaters Mannheim zur Höchstform auf. Mag sein, dass die Zeit für Henzes große, 1966 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Oper arbeitet. Eine Herausforderung bleibt sie allemal, als ein Prunkstück der Moderne, das den letzten großen Nachklang der von Richard Strauss ins 20. Jahrhundert getragenen Spätromantik zu übertrumpfen versucht, ohne den Einfluss von Arnold Schönberg zu leugnen und nicht nur in der kleinteilig sequenziellen, selbstbezüglichen Zersplitterung dem nachzulauschen.

Bei dem einer Interpretation dieses Werkes immer innewohnenden Lavieren zwischen einer erzählten Geschichte und der diskursiven Auseinandersetzung des Pentheus mit dem Dionysischen steht Hilbrich – eher wie Christoph Loy in München (2008) und anders als Peter Stein in Amsterdam (2005) oder Tilman Knabe in Hannover (2008) – mehr auf der Seite des Diskursiven. Dank der musikalischen Referenzqualität der Produktion wäre auch der Weg in die andere Richtung eine Option gewesen.

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