«Was mitunter für Dinge passieren»

Zu Beginn der 1970er Jahre verfasste Mani Matter für Jürg Wyttenbach das Libretto zum Madrigalspiel «Der Unfall» – vierzig Jahre später kommt es nun doch noch zur Uraufführung.

Tobias Gerber
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Jürg Wyttenbach, Composer-in-Residence beim Lucerne Festival. (Bild: Priska Ketterer / Lucerne Festival)

Jürg Wyttenbach, Composer-in-Residence beim Lucerne Festival. (Bild: Priska Ketterer / Lucerne Festival)

Zweimal, so möchte man gerne glauben, widerfährt keinem das gleiche Unglück. Und wenn es doch so kommen sollte, dann scheint das Schicksal sich von seiner besonders launischen Seite zu zeigen. «Der Unfall» – Jürg Wyttenbachs beim Lucerne Festival uraufgeführtes Madrigalspiel nach einem Libretto von Mani Matter – nimmt seinen Ausgang bei einem ebensolchen und findet bei einem zweiten sein Ende. Das Schicksal scheint dabei aber weniger am Werk zu sein. Eher zeichnet sich im sprachlichen Ringen des Protagonisten um eine Erklärung, im argumentativen Kreisen um eine Leerstelle jene Zwangsläufigkeit ab, die quasi als logischer Schluss das Opfer am Ende erneut vor das Fahrzeug treten lässt. Und in der kreisförmigen Anlage des Stückes wäre es durchaus denkbar, dass es nicht nur so kommen musste, sondern dass es auch genauso weitergeht.

Späte Uraufführung

Das Libretto zum «Unfall» verfasste Mani Matter zu Beginn der 1970er Jahre, sein früher Tod im Jahr 1972 beendete die Zusammenarbeit mit Wyttenbach abrupt, so dass die Uraufführung des nun über vierzig Jahre später fertiggestellten Projektes einer kleinen Sensation gleichkommt. Mit der Auftrennung von Musik, Sprache und Gestik auf verschiedene Akteure und mit der Heterogenität mehrerer Handlungsebenen, die in unterschiedlichste Richtungen ausfransen, fügt sich das Stück bestens in das wyttenbachsche Universum. Als Teil eines solchen wurde es denn beim Luzerner Theater in einer Koproduktion des Luzerner Theaters, des Lucerne Festival und des Gare du Nord Basel zusammen mit anderen Werken des Komponisten als «WyttenbachMatterial» in einer szenischen Einrichtung von Désirée Meiser präsentiert. Da hatten Sutil und Laar – das ungleiche Freundespaar aus Gedichten Matters – ihren Auftritt in den von den Basler Madrigalisten unter der Leitung von Raphael Immoos aufgeführten «Scherzliedern»; «Una chica en nirvana» (2000) war da, diese verwirrte Person aus Kuba, die auch singende Klarinettistin ist und in Lanet Flores Otero eine wunderbare Darstellerin gefunden hat, und die singende Geigerin aus den «Chansons violées» (1973), die von Noëlle-Anne Darbellay routiniert verkörpert wurde, fehlte ebenfalls nicht.

Trotz der Uraufführung von «Der Unfall», die am Schluss placiert nahtlos in das Programm integriert war, machte der Abend primär den Eindruck einer Retrospektion. Einen aktuellen Zugriff auf das wyttenbachsche Material schien man zu scheuen. Stattdessen wurden die einzelnen Werke und Teile in einer relativ zügigen Abfolge hintereinandergeschaltet und durch eine eher formalistische Szenografie eingeklammert. Dieses Werk, das so stark vom Spiel mit der Musik geprägt ist, das über Jahrzehnte einen eigenen Kosmos bestückt hat mit Sprachen, Klängen und Szenerien, das das Uneinheitliche und Auseinanderdriftende geradezu sucht, das aber auch von einem Humor getragen wird, der so erfrischend derb sein kann, wie man ihn hin und wieder gerne aus seinem helvetischen Terroir rupfen und irgendwohin schmeissen möchte, auf dass er dort noch wüster wuchere: Gerade dieses Werk stellte für einen zeitgenössischen dramaturgischen Zugriff eine Herausforderung dar, die leider in Luzern in ihrem Potenzial nicht wahrgenommen wurde.

Erweiterte Perspektive

Eine ganz andere Seite von Wyttenbachs musikalischem Schaffen führten die «Divisions» für Klavier und neun Solostreicher im Luzerner MaiHof zutage: Ein klangkräftiges Stück Musik ist diese Komposition aus dem Jahr 1964, das aus den dunklen, flächigen Tiefen der Streicher zur Bewegung findet und am Ende sich in einer kurzen, heftigen Kadenz entzündet. Die junge estnische Pianistin Talvi Hunt meisterte ihren Part dabei vorzüglich mit beweglichem Spiel, das sich so gut mit den Streichern mischte, wie es sich gegen ihren Hintergrund abzusetzen wusste. Mit der «Kinderstube» von Modest Mussorgsky in Wyttenbachs Arrangement für Sopran und Kammerensemble und Charles Ives dritter Sinfonie weitete das Programm die Perspektive auf das Schaffen des Komponisten aus, das im folkloristischen Moment Mussorgskys und in der pluralistischen Ästhetik von Ives zwei wichtige Bezugspunkte hat. Die junge Philharmonie Zentralschweiz und die Sopranistin Maria Korovatskaya – Studentin an der Hochschule Luzern – sorgten unter Wyttenbachs Leitung für eine gewitzt-süsse Kinderstube, wohingegen Ives bewegte Kolorierungen etwas fahl ausfielen. An Farbe und Gestalt mangelte es schliesslich nicht in Wyttenbachs zweitem Violinkonzert «Cortège pour violon accompagné de ‹La Fanfare Harmonie du village›» (2013), in dem die Geigerin Carolin Widmann die Musiker des Orchesters beim Nachstellen eines Courbet-Gemäldes anleitete und, in bester wyttenbachscher Manier, als Solistin souverän auf allen Ebenen – sprachlich, musikalisch und gestisch – bzw. in alle Richtungen agierte.

Mit den Rabelais-Szenen «Gargantua chez les Helvètes du Haut-Valais oder: ‹Was sind das für Sitten!?›» sorgten das Ensemble der Hochschule Luzern und deren Volksmusik-Ensemble «Alpini Vernähmlassig» zusammen mit dem liebevoll-raubeinigen Sprecher Franziskus Abgottspon für einen lustigen, lustvollen und musikalisch fein gezeichneten Abschluss des Wyttenbach-Schwerpunktes.