Kannibalischer Blutgenuss

Dmitri Tcherniakov rückt Wagners Bühnenweihfestspiel «Parsifal» an der Berliner Staatsoper mit russischem Realismus zu Leibe. Für die Weihe sorgt allein Daniel Barenboim mit herausragenden Sängern.

Georg-Friedrich Kühn
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In den Sarg darf er noch nicht, vorher wird Gralsnektar gezapft: Wolfgang Koch als Amfortas (Mitte) in Wagners «Parsifal» an der Berliner Staatsoper. (Bild: Ruth Walz)

In den Sarg darf er noch nicht, vorher wird Gralsnektar gezapft: Wolfgang Koch als Amfortas (Mitte) in Wagners «Parsifal» an der Berliner Staatsoper. (Bild: Ruth Walz)

Es ist ein sehr russischer «Parsifal». Das Ambiente der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, der auch wieder sein eigener Bühnenbildner ist, erinnert an Filme von Andrei Tarkowski. Dunkle Gestalten mit Pudelmützen und langen Bärten schlurfen durch das Oktogon einer verfallenen romanischen Kirche. Auf einfachen Holzbänken vollziehen sie ihre Rituale. Die Knappen werden von Türhüter Gurnemanz per Diaschau eingeweiht in die Kult-Historie: was da war mit Titurel, Amfortas, Kundry, Klingsor, dem Gral und dem heiligen Speer. Die Nahrung der Ritter, gewissermassen ihr Gralsnektar, wird dem armen Amfortas körperwarm abgezapft aus der Wunde, die «nie sich schliessen will», dann verdünnt mit (hoffentlich) heiligem Wasser und löffelweise an die Darbenden vertröpfelt. Parsifal, ein argloser Tramp im T-Shirt mit Wanderrucksack und Armbrust, kann sich da nur wundern. Wir wundern uns auch.

Frühkindliches Sexualverbot

Parsifal blickt erst durch, als er in Klingsors Zauberreich hinabdriftet. Die Bühne ist der gleiche Raum, aber nun ein sozusagen Weisses Haus. Klingsor, eine Mischung aus Mime und Mormonen-Bürohengst in ärmelloser Strickjacke, verwaltet da eine Kommune von Frauen und Kindern in weissen, bunt getupften Kleidern (Kostüme: Elena Zaytseva). Die ganz Kleinen pressen immer ihre Puppen an die Brust. Die Frauen und Mädchen tanzen, hopsen, spielen mit Reifen und Springseilen um Parsifal herum.

Bis dann Kundry den Fremdling aufklärt: über seinen Mutterkomplex und das handfeste Verbot der Mutter, frühkindliche Sexualität zu erproben. Die eine Stunde, die Kundry danach mit ihm haben will, verweigert er. Er packt das Spielzeug ein, das Kundry für ihn in ihrer Reisetasche seit seiner Kindheit mitgeschleppt hat, kassiert von Klingsor läppisch den Speer – und marschiert ab zu Amfortas und der tropfenden Wunde.

Im dritten Akt trägt nun auch Gurnemanz einen langen Bart, ergötzt sich noch ein bisschen an der schief hängenden Foto des vom Sieneser Dom inspirierten Uraufführungsbühnenbilds. Tempi passati. Der todessüchtige Amfortas kippt den verstorbenen Vater Titurel (im Ledermantel, wie ein Sowjet-Kommissar) aus seinem Sarg, in den dieser sich bei den Gralsverkostungen immer wie ein Avatar legen musste. Statt nun endlich selbst in den Sarg steigen zu dürfen, muss Amfortas sich balgen mit den «Brüdern» – die brauchen schliesslich als halbe Kannibalen sein Blut.

Da kommt Parsifal zur rechten Zeit: Gereift durch Kundrys Fusswaschung, erlöst er Amfortas mit dem Speer, indem er den Entsühnungsphallus demütig vor ihm ablegt. Und nun will der quicklebendige Amfortas sich mit Kundry vereinen, sie umarmen, küssen. Gurnemanz allerdings lässt das nicht zu, er ersticht hinterrücks das Paar. Parsifal schleppt Kundry auf den Armen davon, eine verkehrte Pietà. Die Brüder rutschen auf ihren Knien, die Arme gen Himmel reckend, alleingelassen.

Barenboims Hommage an Boulez

Es ist der inzwischen vierte «Parsifal», den Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper seit der Wende dirigiert. Den jetzigen hatte er als Hommage an seinen Freund und Kollegen Pierre Boulez gedacht, zu dessen neunzigstem Geburtstag er die diesjährigen Osterfesttage gestaltete: Wagners «Parsifal» in Bayreuth 1966 war Boulez' Durchbruch als Operndirigent. Leider konnte der Jubilar krankheitshalber nicht kommen.

Besonders im dritten Akt erlebt man bei Barenboim musikalisch einen «Parsifal», der in seiner Differenziertheit seinesgleichen sucht. Erst etwas unscharf, dann immer klarer sind die Strukturen modelliert, der Klang der Staatskapelle samtweich und leuchtend hell. Dank einer angedeuteten Muschel am Orchestergraben klingt das Orchester so gedämpft, dass man fast jedes Wort der Sänger versteht.

Erneut ist René Pape als Gurnemanz in deren Zentrum. Sorgen musste man sich um Anja Kampe machen: Trotz einer Bronchitis und leichtem Fieber sang sie die Kundry. Aber es glückte weitgehend bravourös. Auch Wolfgang Koch überzeugte als Amfortas, sängerisch wie darstellerisch. Eine Offenbarung der Parsifal des jungen Andreas Schager mit seinem frischen, flexiblen Tenor. Gestisch wirkt er noch etwas ungeformt, ein Mangel der nicht sehr ausgeprägten Personenregie Tcherniakovs. Der Regisseur bekam am Ende und schon in der zweiten Pause heftige Buhs.