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Atys

Tragédie en musique in fünf Akten und einem Prolog 
Libretto von Philippe Quinault
Musik von Jean-Baptiste Lully

in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3 h 10' (eine Pause)

Premiere in der Oper Kiel am
4. Oktober 2014




Theater Kiel
(Homepage)
Gelungene Wiederbelebung der französischen Barockoper

Von Thomas Molke / Fotos von Olaf Struck

Während die italienische Oper des 17. Jahrhunderts mit Claudio Monteverdi und Francesco Cavalli mittlerweile durchaus Einzug auf deutschen Bühnen gehalten hat, konnte der Begründer der französischen Tragédie en musique, Jean-Baptiste Lully, diesen Erfolg bis jetzt noch nicht für sich verbuchen. Mit gerade mal 14 Jahren kam der Sohn eines Müllers aus Florenz an den Hof des Sonnenkönigs, Louis XIV., und avancierte dort sehr schnell zum bedeutendsten Opernkomponisten seiner Zeit, dessen Werke sich nicht nur in Frankreich bis weit ins 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. Sein größter Erfolg dürfte seine vierte Oper Atys gewesen sein, die am 10. Januar 1676 im Schloss von Saint Germain-en Laye bei Paris ihre Uraufführung erlebte und als Lieblingsoper des Sonnenkönigs gilt. Nachdem William Christie mit seinem Ensemble Les Arts florissants das Werk 1986 in Florenz bzw. 1987 in Paris erstmalig wieder zur Aufführung gebracht und damit auch den Komponisten Lully dem Vergessen entrissen hat, hat es dennoch fast 30 Jahre gedauert, bis sich erneut eine Bühne damit auseinandergesetzt hat. Die Oper Kiel ist folglich das erste Opernhaus in Deutschland und die dritte Bühne in Europa, die sich in der Neuzeit diesem zu Unrecht vernachlässigten Genre widmet.

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Prolog: von links: die Göttin Flore (Karola Sophia Schmid), der Gott der Zeit (Christoph Woo) und Melpomène (Fiorella Hincapié) (im Hintergrund: Chor)

Die Handlung basiert auf einem in Ovids Fasti und Metamorphosen überlieferten Mythos über die Muttergottheit Cybele und den phrygischen Knaben Attis (Atys), der von der Göttin aus verschmähter Liebe in eine Pinie verwandelt wird. Atys liebt die Nymphe Sangaride, die Tochter des Flussgottes Sangar. Obwohl sie seine Liebe erwidert, soll sie allerdings mit dem phrygischen König Célénus vermählt werden, dem Atys in Freundschaft verbunden ist. Hinzu kommt, dass Cybèle Atys ihre Liebe gesteht und ihn anstelle des Königs zu ihrem Oberpriester macht. Als Sangaride die Göttin Cybèle um Hilfe für ihre Liebe zu Atys bitten möchte, hindert Atys sie daran, was von Sangaride so gedeutet wird, dass er die Göttin und nicht sie liebe. Daraufhin willigt sie enttäuscht in die Hochzeit mit Célénus ein. Doch Atys verhindert die Vermählung und entführt Sangaride. Cybèle und Célénus fühlen sich von Atys und Sangaride verraten, und die Göttin straft den jungen Mann mit Wahnsinn. In Sangaride erblickt er plötzlich ein Monster und tötet sie. Als ihm seine schreckliche Tat bewusst wird, begeht er aus Verzweiflung Selbstmord. Cybèle verwandelt den Sterbenden aus Mitleid in eine Pinie, die nun von allen als heiliger Baum der Cybèle verehrt werden soll.

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Célénus (Tomohiro Takada) will Sangaride (Ks. Heike Wittlieb) heiraten, doch diese liebt heimlich Atys.

Mit Lucinda Childs ist eine bedeutende moderne Choreographin für diese Produktion verpflichtet worden, die dem Werk in seiner dreigeteilten Struktur aus dramatischer Deklamation der Solisten, Tanz- und Choreinlagen gerecht wird, ohne dabei in eine museale Aufführungspraxis abzugleiten. Paris Mexis hat dafür ein Bühnenbild geschaffen, das mit den beiden riesigen Löwen-Statuen und den sechs antiken Säulen zwar einerseits antike Elemente aus dem Cybele-Kult aufgreift, ansonsten aber auf großen Pomp verzichtet und eher mit unterschiedlichen Lichteinstellungen arbeitet. Großartig gelingt dabei ein Bild aus dem vierten Akt, wenn zur bevorstehenden Hochzeit von Sangaride und Célénus ein Bühnenprospekt aus dem Schnürboden herabgelassen wird, der die Form einer antiken Vase andeutet, und das Ensemble im Standbild durch die Lichtgestaltung von George Tellos wie ein antikes Gemälde auf einer Vase wirkt. Die göttliche Ebene wird durch Masken betont, die die Solisten vor ihrem Gesicht tragen. Dabei dürfte die Sonnenmaske des Gottes der Zeit im Prolog als Anspielung auf Louis XIV. zu verstehen sein, dem in diesem Prolog gehuldigt wird. Bei Cybèle, der einzigen Gottheit ohne Maske, deuten mehrere Brüste unter ihrem Kleid ihren Status als Muttergottheit an.

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Atys (Juan Sancho, vorne) wird mit Wahnsinn gestraft (im Hintergrund: Shori Yamamoto als Dämon Alecton).

Musikalisch steht das Stück nicht nur im dramaturgischen Aufbau einer klassischen Tragödie näher als einer italienischen Barockoper. Die Solisten werden in der Regel nur von einer Continuo-Gruppe bestehend aus einem Cello, einer Viola da Gamba, einer Laute und einem Cembalo begleitet, während der Einsatz des kompletten Orchesters den Tanzeinlagen und den Chorpassagen vorbehalten ist. Die Übergänge von Rezitativen in ariose Momente erfolgt nahezu unbemerkt und dient nicht der musikalischen Verzierung. Besonders hervorzuheben ist die Traumszene im dritten Akt. Wenn Atys vom Schlaf übermannt wird und ihm vier Götter des Schlafes Cybèles Liebe in den herrlichsten Farben ausmalen, lässt sich gut nachvollziehen, dass Louis XIV. sich diese Passage gern vorsingen ließ, wenn er abends nicht einschlafen konnte. In einem wunderbar harmonischen Klang wird der Zuschauer von dieser beruhigenden Musik regelrecht eingelullt. Doch die Harmonie trügt. Denn plötzlich tritt ein Alptraum auf und macht die Gefahr deutlich, in die sich Atys begibt, wenn er Cybèles Liebe ausschlagen oder hintergehen sollte. Die Wahnsinnsszene im fünften Akt führt dann auch vor Augen, dass diese Warnung durchaus ernst gemeint war. Cybèle ruft den Dämon Alecton herbei, wobei Shori Yamamoto mit expressiven Bewegungen Atys die Sinne vernebelt. Childs verzichtet im Folgenden darauf, den Mord an Sangaride auf offener Bühne zu zeigen.

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Cybèle (Rosanne van Sandwijk) berichtet Atys (Juan Sancho), dass er seine Geliebte Sangaride (Ks. Heike Wittlieb, im Hintergrund) erschlagen habe.

In der Choreographie der Tanzeinlagen gelingt Childs ebenfalls eine faszinierende Umsetzung. Mal bewegt sich das Ballett Kiel nahezu federleicht zur zauberhaften Musik und erinnert durch spielerische Einlagen an eine bukolische Idylle. Dann wechselt es in der Alptraum- oder der Wahnsinnsszene in expressive Bewegungen und unterstreicht damit die Bedrohlichkeit der Situation. Der Chor nimmt mit einer schwarzen Maske, die eine Art Schnabel enthält, wie in der antiken Tragödie eine kommentierende Funktion ein und singt häufig von den Seiten. Im Prolog verkörpert er die Stunden, die mit dem Gott der Zeit in Wechselgesang treten. Schön ist in dieser Szene die Lichtuhr, die dabei auf dem Bühnenboden tickt. Auch die Solisten des Abends lassen keine Wünsche offen. Juan Sancho stattet die Titelpartie mit einem weichen Tenor aus, der in den Höhen sehr geschmeidig klingt. Ks. Heike Wittlieb überzeugt als Sangaride mit leuchtendem Sopran und findet mit Sancho im gemeinsamen Duett des ersten Aktes zu einer bewegenden Innerlichkeit. Christoph Woo. Fiorella Hincapié und Karola Sophia Schmid punkten gleich in mehrere Rollen. Woo gefällt als Gott der Zeit, Atys' Freund Idas und Sangarides Vater mit großer Textverständlichkeit. Schmid stattet die Göttin Flore und Cybèles Priesterin Mélisse mit leuchtendem Sopran aus. Hincapié überzeugt als Melpomène und Sangarides Freundin Doris mit einer prächtigen Mittellage. Tomohiro Takada stattet Célénus mit kräftigem Bariton aus. Rosanne van Sandwijk gestaltet die Partie der Cybèle stimmlich und darstellerisch mit großer Dramatik.

Das Philharmonische Orchester Kiel erweckt unter der Leitung von Rubén Dubrovsky die für zeitgenössische Ohren vielleicht etwas ungewöhnliche Partitur zu neuem Leben, so dass es am Ende großen Applaus für alle Beteiligten gibt, der beim Auftritt des Regie-Teams noch einmal deutlich anschwellt.

FAZIT

Lucinda Childs beweist mit ihrer Inszenierung, dass man französische Oper auch spannend umsetzen kann, ohne sie dabei ihrer inneren Struktur zu berauben. Deshalb sollte man sich diese Produktion in Kiel nicht entgehen lassen



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Rubén Dubrovsky

Regie und Choreographie
Lucinda Childs

Ausstattung
Paris Mexis

Lichtgestaltung
George Tellos

Dramaturgie
Ulrich Frey
Daniela Roth


Ballett Kiel

Opernchor des Theaters Kiel

Statisterie des Theaters Kiel

Philharmonisches
Orchester Kiel


Solisten

*rezensierte Aufführung

Der Gott der Zeit
Christoph Woo

Die Göttin Flore
Karola Sophia Schmid

Melpomène, die Muse der Tragödie
Fiorella Hincapié

Ein Zephyr
*Ulrich Cordes /
Benedikt Kristjánsson

Die Göttin Iris
Rahel Brede

Atys
Juan Sancho

Idas, sein Freund
Christoph Woo

Sangaride

Ks. Heike Wittlieb

Doris, ihre Freundin
Fiorella Hincapié

Die Göttin Cybèle

Rosanne van Sandwijk

Mélisse, ihre Priesterin
Karola Sophia Schmid

Célénus, der König von Phrygien

Tomohiro Takada

Der Gott des Schlafes
*Ulrich Cordes /
Benedikt Kristjánsson

Morphée
Ulrich Cordes /
*Benedikt Kristjánsson

Phobétor
Tomohiro Takada

Phantase
Alexey Egorov

Ein Alptraum
Marek Wojciechowski
 
Phobétor

Tomohiro Takada

Sangarides Vater, der Flussgott Sangar
Christoph Woo

Vier Flussgottheiten

Ulrich Cordes
Benedikt Kristjánsson
Alexey Egorov
Marek Wojciechowski

Alecton, ein Dämon
Shizuru Kato /
Didar Sarsembayev /
*Shori Yamamoto

 

 


Weitere Informationen
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Theater Kiel
(Homepage)




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