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"Charlotte Salomon": Ist es Leben? Ist es Theater?

Die Salzburger Festspiele haben eine neue Oper in Auftrag gegeben und bekommen. Sie handelt vom Leben einer jüdischen Malerin. Aber sie zeigt kein neues Bild der "Moderne".

"Charlotte Salomon": Ist es Leben? Ist es Theater?
"Charlotte Salomon": Ist es Leben? Ist es Theater?


Es ist immer wieder ein Abenteuer, eine neue Oper zu schreiben: für die Auftraggeber und Produzenten wie für die Komponisten. Bekommt man das Bestellte zeitgerecht? Geht das Risiko auf? Wie geht man als Schöpfer mit der Last von 450 Jahren Operngeschichte um? Und: Gibt es "das Neue" überhaupt?

Je bedeutender die Institution, desto herausgeforderter fühlen sich die Künstler. Sieben Jahre beispielsweise brauchte Mark André, um seine Assoziationen über den schwäbischen Reformator Johannes Reuchlin zu einem aufwendig-komplizierten Musiktheater zu machen, ehe "wunderzaichen" in Stuttgart vor ein paar Monaten unter größter internationaler Beachtung uraufgeführt werden konnte. In München forderte Jörg Widmann mit seinem exorbitanten Spektakel "Babylon" monatelang die Kräfte der Staatsoper. Es geht zwar auch kleiner und bescheidener, wie die Münchner Biennale alle zwei Jahre zeigt, aber das Abenteuer ist nicht geringer.

Die Salzburger Festspiele haben eine gute Tradition von Opernuraufführungen. Nach "Cronaca del luogo" von Luciano Berio (1999) und "L'Amour de loin" von Kaija Saariaho (2000) musste man allerdings wieder zehn Jahre warten auf Wolfgang Rihms "Dionysos". Dafür aber erweisen sich diese Werke als nachspiel- und repertoiretauglich: Saariahos Oper wird in der kommenden Saison in Linz zu erleben sein, "Dionysos" war kürzlich in einer furiosen Neuinterpretation in Heidelberg zu sehen.

Wird Marc-André Dalbavie diese Gunst für sein am Montag in der Felsenreitschule mit deutlicher Zustimmung uraufgeführtes Werk "Charlotte Salomon" auch beschieden sein? Wir hegen einmal leise Zweifel. Dalbavie ist der Erste in einer Reihe von drei geplanten Uraufführungen bis 2016, und er hat seine Oper auch gleich selbst dirigiert: mit jener Akkuratesse und bescheidenen Geradlinigkeit, die auch seine Partitur bestimmt. Das Mozar-teumorchester hat das nach außen hin eher karge Tongerüst mit feinsten Farben klangschön ausstaffiert.

Denn "dramatisch" im herkömmlichen musiktheatralischen Sinn ist "Charlotte Salomon" über beinahe zweieinhalb pausenlose Stunden nicht. Vier Jahre lang beschäftigte sich der 1961 geborene französische Komponist mit dem Leben und Schicksal der titelgebenden jüdischen Malerin, die ihre - problematische - Familiengeschichte in einer fiktiven Bilder-Autobiografie in Hunderten von Gouachen aufgezeichnet und (nach-)gedichtet hat. Aber er wollte weder eine biografische Chronik schreiben noch eine "Musikalisierung" von Malerei noch eine Abhandlung über Kunst und Gesellschaft, und schon gar keine Holocaust-Geschichte. Aber irgendwie spielen diese Parameter dann doch auch hinein.

Der aus der Schule der "Spektralisten" kommende, ihr aber entwachsene Komponist spielt demgemäß in erster Linie mit koloristischen Elementen. Sie liegen im Orchesterpart, der sich großteils statisch ausbreitet: in Liege- und Haltetönen, einer charakteristisch heraushörbaren absteigenden Tonskala, subtilen, meist kaum bewegten instrumentalen Farbtupfern und -flächen, nur gelegentlichen Klangeruptionen.

Darüber finden die Sänger zu einem "Rezitationston", der sich dem Text von Barbara Honigmann in französischer Übersetzung - sie hat wiederum, eigener Aussage nach, 85 Prozent aus originalen Zitaten Salomons kompiliert - erzählerisch geschmeidig anschmiegt.

Einer Zitat-Collage folgt auch der Komponist, indem er vor allem im ersten Teil Musik von anderen einbaut, je nach zu illustrierender Situation wörtlich oder leicht verfremdet oder sie überblendend: die Habanera aus "Carmen", den Brautchor aus dem "Freischütz", barocke Arien, Kinder-, Tanz-, Heimat- und Volkslieder, auch das Horst-Wessel-Lied. Indem die "fremden" Elemente zunehmend wegfallen, steuert Dalbavie schließlich auf die Kernaussage seiner Oper zu: die Selbstfindung einer jungen Frau.

In ihrer Bildergeschichte, der sie den Titel "Leben? oder Theater?" gab und die sie ein "Singespiel" nannte, erfindet Charlotte Salomon ein Alter Ego: Charlotte Kann. Sie erinnert sich an ihre Großeltern, an ihre Stiefmutter (Paulinka Bimbam heißt sie, wie alle anderen, mit Fantasienamen), die eine berühmte Sängerin war, an einen Ausflug nach Rom, ihre Kunstausbildung an der Akademie in Berlin, schon im Schatten der heraufziehenden Nazidiktatur, und sie erlebt eine Liebesgeschichte mit dem Gesangslehrer Amadeus Daberlohn, der eigentlich in Paulinka verliebt ist - eine klassische Ménage-à-trois. Der "Hauptteil" endet mit der "Reichspogromnacht" und dem Weg ins Exil, nach Südfrankreich.

Dort erfährt Charlotte - in einem Epilog - von der dunkelsten Seite der Familiengeschichte: Viele Mitglieder sind in den Freitod gegangen. Als der Druck durch ihren Großvater immer unerträglicher wird, denselben Weg zu gehen, vergiftet sie ihn. Die "wahre" Charlotte Salomon wurde nach Auschwitz deportiert und im Alter von 26 Jahren am 10. Oktober 1943 ermordet.

Als eine Bildergeschichte hat auch Luc Bondy die Uraufführung in der Felsenreitschule inszeniert: in einem die ganze Bühnenbreite einnehmenden schmalen weißen Schachtelkasten (von Johannes Schütz), der sich mit variablen Wänden unmerklich in verschiedene Schauplätze unterteilen lässt und auf dessen Rückwand Salomons Illustrationen vorbeiziehen. In allen "Teilen" bleibt aber immer das Ganze transparent.

Das erlaubt insgesamt eine stille, unaufgeregte Beweglichkeit der Bilder, auch eine Leichtigkeit der Auf- und Abtritte und Szenenüberblendungen. Damit arbeitet die Szene unaufdringlich, aber bestimmt auch mit dem Coup des Werks: dem Changieren der Hauptperson zwischen der authentischen Salomon-Erzählerin (auf Deutsch) und der "Bildromanfigur", die großteils auf Französisch singt. Johanna Wokalek und Marianne Crebassa sind ein ideales Zwillingsgeschöpf, tatsächlich zwei, die eins werden, musikalisch im Reden, rhetorisch präsent im weichen Fluss des Singens.

Alles andere muss da Episode bleiben, obwohl auch da durchaus klare Konturen erkennbar sind: bei Anaïk Morel als Paulinka und ihren geschmackvoll vorgetragenen Gesangsnummern, bei Frédéric Antoun als tenoral schmelzendem Gesangslehrer-Liebhaber, bei Cornelia Kallisch und Vincent Le Texier als markantem Großelternpaar und bis in die kleinen Rollen hinein.

Die Grundfrage freilich ist nicht lösbar: Wozu wird das erzählt? Da die Oper eine zielgerichtete Handlung ebenso verweigert wie eine entsprechende opern- und klangtheatralische Kontrastdramaturgie, bleibt nur ein unverbindlicher Bilderbogen. Er wird lediglich ausgebreitet und nicht entwickelt. Man sieht das über letztlich allzu dürftigen kompositorischen Einfällen mehr lastendem als flockigem (Klang-)Teppich über zwei Stunden vorüberziehen. Aber es berührt einen nicht.

Leben? Oder Theater? Eigentlich von beidem - keines.

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