Puccini wird eingemeindet und zeitgemäß geliftet mittels Mikro, Mischpult und Videokamera: In Stuttgart scheitern Andrea Moses und Simon Hewett trotzdem an der Erfolgsoper „La Bohème“.

Stuttgart - In der Stuttgarter Neuinszenierung von Puccinis „La Bohème“ liegt Paris am Nesenbach, und für das Café Momus im Quartier Latin hat das eben geschlossene Café Scholz am Marktplatz Pate gestanden. Auch sonst ist ins zweite Bild viel Lokales eingeflossen. Der zum Peace-Zeichen umgedeutete Mercedesstern grüßt vom Weihnachtsbaum. Stiftskirche und Markthalle sind angedeutet, überragt von einer riesigen Spätzlespresse in Gold, auf der der Spruch „Heilig’s Blechle“ prangt, so dass auch der reingeschmeckteste Nichtschwabe sofort weiß, wo er sich befindet.

 

Die Bühne hat, in Zusammenarbeit mit der hauseigenen Produktionsleiterin Susanne Gschwender, der Objektkünstler Stefan Strumbel entworfen. Sein Markenzeichen, bekannte Symbole kritisch umzupolen, kommt nur einmal zum Einsatz: wenn er das Playboy-Häschen, das für das Bordell im einfallslosen dritten Bild wirbt, zum Wildschwein umfrisiert. Sonst ist kaum Originelles zu sehen. Puccinis Künstlermansarde präsentiert sich als Hinterhofrumpelkammer, allerdings zeitgemäß geliftet mit Videobildschirmen, Mikro und Mischpult, Kamera und Scheinwerfern. Rodolfo schreibt seine Artikel auf einem Apple, Marcello malt mit der Spraydose. Im Schlussbild, einem hellen Studio mit Glaswänden, erinnern nur noch die Bildschirme und das karge Mobiliar an den Hinterhof. Die Hungerleider von einst sind arriviert, Käufer strömen ins Atelier, die den Tod Mimìs als Performance und nicht als Wirklichkeit wahrnehmen.

Im Vorfeld der Premiere hatte die Regisseurin Andrea Moses noch angedroht, politisch Klartext zu reden und das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft – das bei Puccini keine Rolle spielt! – ins Zentrum zu stellen. Ach, hätte sie’s doch getan, es wäre wenigstens etwas gewesen, an dem man sich hätte reiben können. Stattdessen hat sie das Stück, eines der dramaturgisch bestgebauten, musikalisch abwechslungsreichsten der Operngeschichte, mit seinem Ineinander von komischen und sentimentalen Elementen, von Realismus und Poesie, seinem Schmelz, Aufschwung und Todesverlangen einfach verschenkt.

Schlecht geführter Chor in der Shopping-Mall

Am signifikantesten war dies im zweiten, keine zwanzig Minuten dauernden Bild, das am Weihnachtsabend im Quartier Latin spielt – bei Puccini die Tour de force einer wirbelnden, aber musikalisch präzise konnotierten Massenszene aus Verkäufern und Käufern, Kindern und Erwachsenen, an deren Rand Rodolfo seinen Freunden Mimì präsentiert. Bei Moses ist es die gestelzte, leere Umtriebigkeit eines schlecht geführten Chors, der in der Shopping-Mall in popbunten Kostümen (Anna Eiermann) eine Show mimt. Völlig in die Binsen geht auch der Höhepunkt, der Auftritt der kapriziösen Musetta im Lady-Gaga-Outfit. Dass es am Schluss zu einem Aufruhr in der Menge kommt, den die Polizei niederknüppelt – bei Puccini der Aufmarsch der Zapfenstreichpatrouille –, ist eine alberne, den Protest verniedlichende Anspielung auf den „schwarzen Donnerstag“ im Schlossgarten. Kritisch ist das alles nicht, sondern in seiner aufs schenkelklopfende Amüsement zielenden Oberflächlichkeit geradezu affirmativ.

Wie in allen ihren bisherigen Stuttgarter Arbeiten inszeniert Moses auch hier nicht subtil aus der Musik, sondern handfest gegen sie. Sie macht die Figuren, an deren Innenleben sie nicht interessiert ist, klein, ja banalisiert sie und lässt sie überdies, ein handwerklicher Grundfehler, oft nicht miteinander, sondern zur Rampe agieren. Auf diese Weise verpufft auch der Zauber der ersten Begegnung von Rodolfo und Mimì, weil Moses hier wieder einmal mit ihrem einzigen Regieeinfall, der medialen Verdopplung des Geschehens, beschäftigt ist. Alle Arien der Oper sind handlungsbetont, ja quasi improvisiert, auch die Rodolfos und Mimìs im ersten Akt, wenn die beiden sich miteinander bekannt machen. Moses zerrt sie vors Mikrofon, als wär’s eine Einlage. Ähnlich macht sie es später mit Musettas Walzerlied.

Andere Szenen, so der kurze Auftritt des Vermieters Benoît – Mark Munkittrick gestaltet ihn als brillante Vignette –, werden gleich mit der Kamera aufgenommen und per Video verdoppelt. Selbst Mimís Tod, das musikalisch exakt protokollierte Verlöschen einer Sterbenden, wird öffentlich performt. Das soll medien- und damit natürlich zeitkritisch sein. Darin zeigt sich aber eher die Angst einer Regie, die dem erfühlten, dem erfüllten Augenblick der Emotionen ausweicht und vor der Tragik des beschädigten Lebens die Augen schließt.

Keine Note ist ohne Bedeutung

Auch die musikalische Seite konnte das Desaster der Regie nicht wettmachen. Toscanini, der 1896 die Uraufführung dirigiert hatte, bezeichnete die „Bohème“-Partitur einmal als „wahres Wunder“. In diesem von den vielen Verächtern Puccinis zu Unrecht übel beleumdeten Stück gibt es keine einzige Note, die ohne Bedeutung ist. Diese Genauigkeit kommt aber nur heraus, wenn man auch jeden Ton zum Sprechen bringt. Simon Hewett, der neue Kapellmeister der Staatsoper, ging seine erste Premiere zwar forsch an, aber es wackelte oft heftig, vor allem zu Beginn des zweiten Aktes. Gar nicht zurecht kam er mit der bei Puccini so entscheidenden atmenden Bewegung des Tempo rubato, das bei Phrasenenden oft stehen blieb, dadurch den lyrischen Fluss unterbrach und Löcher verursachte.

Wenig glücklich wurde man auch, mit Ausnahme des Rodolfo von Atalla Ayan, mit den Sängern. Ayan besitzt nicht nur eine schöne Stimme, sondern weiß sie zu modulieren, kann den Ton ins Piano zurücknehmen, ihn andererseits beim Forte in der Höhe, ohne zu drücken, aufstrahlen lassen. Bogdan Baciu als Marcello und Adam Palka dagegen lieferten sich einen Wettstreit im übertriebenen, undifferenzierten Forte-Singen – besonders ärgerlich in einem Stück, dessen Deklamation sich der gesprochenen Sprache nähert. Pumeza Matshikiza als Mimì blieb blass, besaß keinerlei stimmliche Ausstrahlung und sang ein schlechtes Italienisch. Yoko Kakuta, die in modernen Partituren so brillant sein kann, war als kokette Musetta total fehlbesetzt und verschenkte mit ihrem hart und unsauber intonierten Walzerlied den Ohrwurm des Stücks. Am Ende dieses in jeder Hinsicht enttäuschenden Abends gab es Ovationen. Man fragte sich ratlos, wofür.