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"Hoffmanns Erzählungen" in Madrid
Keine Sekunde Nostalgie

In Offenbachs berühmtester Oper "Hoffmanns Erzählungen" geht es um einen Künstler in vier unmöglichen Liebesgeschichten. Gut drei Stunden dauerte die Version der unvollendeten Oper am Teatro Real in Madrid. Dirigent Sylvain Cambreling prägt den Abend durch sein grandioses Gespür für Tempi, Anne Sofie von Otter durch ihre wunderbar phrasierende Begleitung.

Von Paul Ingendaay | 18.05.2014
    Anne Sofie von Otter in der Madrider Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen": Sie trägt einen Trenchcoat und zwei Brillen übereinander.
    Die schwedische Mezzo-Sopranistin Anne Sofie von Otter in "Hoffmanns Erzählungen" am Teatro Real in Madrid. (dpa / Javier Del Real/Handout)
    Es war die Inszenierung, die Gerard Mortier am Ende seiner Madrider Zeit gern noch erlebt hätte: "Hoffmanns Erzählungen" von Jacques Offenbach, eine Koproduktion des Teatro Real mit der Stuttgarter Staatsoper. Mortiers Tod im vergangenen März machte die Hoffnung zunichte.
    In Offenbachs berühmtester Oper geht es um einen Künstler, der in vier unmöglichen Liebesgeschichten sein Künstlertum durchlebt und nach der großen Desillusionierung – vielleicht – an die Arbeit gehen wird. Den die Muse begleitet, der Alkohol betäubt und der Teufel in vier Gestalten verspottet. Ein irgendwie passendes Finale für einen großen Intendanten, dessen forschende Neugierde das Madrider Publikum nicht immer zu würdigen wusste.
    Gut drei Stunden dauert die neue Version der unvollendeten Oper, die der Dirigent Sylvain Cambreling nach dem Originalmanuskript aus der Pariser Nationalbibliothek erstellt hat. Cambreling selbst prägt den Abend durch sein grandioses Gespür für Tempi, die Klangfarben des Madrider Opernorchesters und eine nie nachlassende Spannung. So virtuos Offenbach die musikalischen Zitate von Mozart bis Bizet gesetzt hat, so grell die Komik und so elegisch die Liebesduette, diese Oper kontrastiert die Modernität ihrer Baukastenarchitektur mit strenger musikalischer Einheit, in der nicht einmal die verrückten Koloraturen der Aufziehpuppe Olympia, gesungen von Ana Durlovski, zur Nummernarie verkommen.
    Die Inszenierung von Christoph Marthaler zeigt, wie wenig "Aktualisierung" es braucht, wenn der Schauplatz den Geist der Handlung vorgibt. Bevor Marthaler und sein Team sich an die Arbeit machten, führte Mortier sie in der Madrider Altstadt in den "Círculo de Bellas Artes": Der private Kunstverein aus dem 19. Jahrhundert, nicht weit vom Prado, verfügt über Säulenhallen, Zeichenatelier, Restaurant und Billardraum. Die schiere Größe der Säle mit ihrem hier und da abblätternden Putz erinnert an die ästhetische Ruhelosigkeit einer bürgerlichen Öffentlichkeit, für die Kunst noch Erkenntnis bedeutete, nicht Unterhaltung.
    Ausdrucksstark: die Schönheit der Musik Offenbachs
    Hoffmann, der Poet, den Eric Cutler mit physischer Präsenz und geschmeidigem Tenor singt, fegt wie ein Wirbelwind in die Lehrräume des akademischen Zeichnens und rüttelt am Käfig der Wissensgesellschaft. In der Doppelrolle als Muse und Freund Nicklausse steht ihm die wunderbar phrasierende Anne Sofie von Otter als melancholische Begleiterin zur Seite. Den emotionalen Höhepunkt liefert die ausdrucksstarke Sopranistin Measha Brueggergosman als Antonia im Liebesduett.
    Die Schönheit von Offenbachs Musik wird in Madrid weder zelebriert noch vertändelt. Sie tritt hervor, damit Schatten auf sie fallen. Eine moderne Oper über Pathos und Absurdität des Erkenntnisstrebens. Trotz des historisierenden Schauplatzes: Im hellen, klaren Bühnenbild von Anna Viebrock und der Dramaturgie von Malte Ubenauf darf sich keine Sekunde Nostalgie breitmachen. Wenn der Held im Suff dem Schlehmil an den Kragen geht und ihn in den Tiefen des Billardtisches versenkt, kracht es wie im Mafiafilm.
    Je länger Hoffmanns Suche dauert, desto stärker bemächtigen sich die Geister der Bühne: rastlos wandernde Figuren, die das Geschehen umkreisen und das Phantastisch-Romantische des Librettos offenbaren. Marthaler und Cambreling lassen Hoffmanns Erzählungen leise und mit unüberhörbarer Traurigkeit ausklingen. Menschen rollen sich zum Schlaf auf Billardtischen zusammen, fallen zu Boden wie Obst von den Bäumen, steigen wieder hinauf, um vielleicht wieder zu fallen. Ein poetisches Schlussbild für die letzte Inszenierung, die Gerard Mortier in Madrid verantwortet hat.