Liebe, Sucht und Wahn

Tschaikowskys zweitletzte Oper zeichnet das Psychogramm eines besessenen Spielers. Der Regisseur Robert Carsen zeigt sie konsequent aus der Innenschau des Protagonisten.

Marianne Zelger-Vogt
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Ultimative Begegnung: Doris Soffel als Gräfin und Aleksandrs Antonenko als Hermann in der Zürcher Neuinszenierung von Peter Tschaikowskys Oper «Pique Dame». (Bild: Monika Rittershaus)

Ultimative Begegnung: Doris Soffel als Gräfin und Aleksandrs Antonenko als Hermann in der Zürcher Neuinszenierung von Peter Tschaikowskys Oper «Pique Dame». (Bild: Monika Rittershaus)

Noch bevor Hermann, die Hauptfigur in Peter I. Tschaikowskys «Pique Dame», auftritt, lernt man ihn aus der Schilderung seiner Kumpane kennen: Seltsam sei er, düster, ohne Vermögen, und nächtelang sitze er am Spieltisch, ohne selber zu spielen. Auch sein Name, im Russischen German, zeigt an, dass er ein Fremder, ein Aussenseiter ist. Das Erste, was Hermann selbst dann von sich preisgibt ist, dass er leidenschaftlich verliebt sei in eine Frau, deren Namen er nicht kenne, die unerreichbar, da höheren Standes sei.

Das Geheimnis der drei Karten

Liebe und Spiel: Zwischen diesen Polen spannt sich die Handlung der Oper, deren Text der Bruder des Komponisten nach einer Novelle Puschkins verfasst hat. Als Hermann erfährt, dass die Grossmutter seiner Angebeteten, die unheimliche alte Gräfin, das Geheimnis der drei gewinnbringenden Karten kenne, glaubt er den Weg zur Geliebten gefunden zu haben. Doch über dem Weg vergisst er das Ziel, die Spielsucht ist stärker als seine Liebe, und die Gräfin stirbt beim Anblick seiner Pistole, bevor er ihr das Geheimnis entreissen kann.

Noch konsequenter als Jens-Daniel Herzog in der letzten Zürcher Inszenierung des Stücks erzählt Robert Carsen das Drama aus der Perspektive Hermanns. Dieser liegt zu Beginn nach seinem Suizid an der Bühnenrampe, umgeben von den Spielern. Dann rollt das Geschehen in Rückblende ab. Einziger Schauplatz ist der Saal im Kasino, umfasst von kompakten dunkelgrünen Wänden mit Rautenmuster, möbliert mit schwarzen Tischen und Stühlen unter grünen Lampen (Bühnenbild Michael Levine). Kaltes Licht fällt auf die Darsteller, deren elegante Kleidung – Smokings für die Herren, das «kleine Schwarze» für die Damen – mit dem abgetragenen langen Mantel Hermanns kontrastiert (Kostüme Brigitte Reiffenstuel).

Auf alles Beiwerk wird verzichtet, der eröffnende Kinderchor entfällt ebenso wie das Hirtenspiel in der Festszene, Ort und Zeit sind gleichsam neutralisiert, das spezifisch Russische ersteht allein aus der Sprache und aus der Musik. Letztere hat im Dirigenten Jiří Bělohlávek einen Sachwalter, der mit der Philharmonia Zürich das reiche Farbspektrum der Partitur in allen Schattierungen zum Erklingen bringt. Trotz teilweise langsamen Tempi bricht der Spannungsbogen, den er über die Szenen und Akte legt, nie ein – ein Höhepunkt ist die nächtliche Begegnung von Hermann und Lisa im ersten Akt –, und wo die Szene jegliche Aufhellung verweigert, bringt das Orchester die erforderlichen Kontraste und Lyrismen ein.

Das grossenteils slawische Solistenensemble und der seinen grossen Part souverän ausfüllende Chor (Leitung Jürg Hämmerli) setzen die Intentionen des Regisseurs mit spürbarer Empathie um. Aleksandrs Antonenko, eben noch als Radamès zu hören, hat die Partie des Hermann als «Nothelfer» übernommen (und steht für die nächsten Vorstellungen nicht zur Verfügung), zeichnet jedoch darstellerisch wie sängerisch ein genau ausgearbeitetes, intensives Rollenporträt. Sein Tenor beeindruckt auch hier durch metallische Strahlkraft und hervorragende Fokussierung, steht jedoch konstant unter Hochspannung, so dass Ausdruck und Lautstärke kaum eine Differenzierung erfahren.

Filmische Inspirationsquellen

Tatiana Monogarovas Lisa glaubt man, dass sie aus der ihr vorgezeichneten Lebensbahn und aus der Verlobung mit dem noblen Fürsten Jeletzki – von Brian Mulligan mit wunderbar sattem, frei strömendem Bariton gesungen – ausbrechen will. Lisas Zweifel, ob Hermann den Tod der Gräfin verschuldet habe, ihr verzweifeltes Warten auf seine Rückkehr, ihre Bereitschaft, zu verzeihen und mit ihm ein neues Leben zu beginnen: Das alles gewinnt in Monogarovas Darstellung sprechenden Ausdruck, doch ihr stimmliches Spektrum ist deutlich enger. Über der tragenden, gerundeten Mittellage verhärtet sich ihr Sopran, und mit zunehmender Vorstellungsdauer trübt sich zudem die Intonation. Auch den Mezzosopran von Anna Goryachova, die Lisas Freundin Polina verkörpert, wünschte man sich etwas weicher, geschmeidiger.

Schillerndes Profil verleiht Carsen der Gräfin – in ihr werden die filmischen Inspirationsquellen, auf die er sich beruft, am ehesten manifest. Doris Soffel, in Zürich vor allem als Carmen in Erinnerung und stimmlich trotz ausgeprägtem Vibrato keineswegs alt wirkend, erscheint zunächst als herrische Dame, die ihr Alter verleugnet. Dann verwandelt sie sich, indem sie Perücke und Schmuck ablegt, in eine halb komische, halb hilflose, doch kaum dämonische Greisin. Dass die tödliche Begegnung mit Hermann auf einem Bett spielt, verstärkt diesen Eindruck. So effektvoll das pompöse Requisit in der Festszene den Auftritt der Zarin ersetzt und das Umkippen von Hermanns Spielsucht in Wahnsinn markiert: Für die nachfolgende Szene eignet es sich schlecht. Plausibel wirkt hingegen die Konkretisierung von Hermanns Vision der Begräbnisszene, bei welcher der Chor als Trauergemeinde auf der Bühne präsent ist und die Gräfin die drei Karten ihrem Sarg entnimmt.

Die Rache der Gräfin

Im letzten Bild schliesst sich der Kreis, wieder sind Hermanns Kumpane – Alexey Markov als Tomski, Tomasz Slawinski als Surin, Martin Zysset als Tschekalinski – und die übrigen Spieler um die Tische versammelt, zweimal gewinnt Hermann, nur Jeletzki setzt noch gegen ihn, mit dem As glaubt er auch diesen auszustechen, da hält er statt des Asses die Pique Dame in der Hand. Mit der Pistole gibt er sich den Tod. Und nach spannungsvollen drei Stunden spendet das Publikum einhelligen Beifall für die szenisch und musikalisch fesselnde Neuinszenierung eines Meisterwerks.