WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Bühne und Konzert
  4. Opernmatsch: Sexakrobatik in Softpornonähe

Bühne und Konzert Opernmatsch

Sexakrobatik in Softpornonähe

Straflagersex im Schlamm: Bei „Lady Macbeth von Mzensk“ geht es schmutzig zu, und auch Ladislav Elgr (Sergej) und Ausrine Stundyte machen sich schmutzig Straflagersex im Schlamm: Bei „Lady Macbeth von Mzensk“ geht es schmutzig zu, und auch Ladislav Elgr (Sergej) und Ausrine Stundyte machen sich schmutzig
Straflagersex im Schlamm: Bei „Lady Macbeth von Mzensk“ geht es schmutzig zu, und auch Ladislav Elgr (Sergej) und Ausrine Stundyte machen sich schmutzig
Quelle: Vlaamse Opera / Annemie Augustijns
Opernregisseur Calixto Bieito tut, was man von ihm erwartet: Er inszeniert in Antwerpen Schostakowitschs realistisch-schrille Fallstudie „Lady Macbeth von Mzensk“ mit gebremster Brutalowirkung.

Der ziemlich ehrgeizige Intendant Aviel Cahn, der uns mit großer Sicherheit als nächstes an einem deutschen Opernhaus begegnen wird, hält seine in Antwerpen und Gent spielende Vlaamse Opera mit einer Mischung aus Marketinginstinkt und Risikobereitschaft seit Jahren auf Erfolgskurs. Er lässt Jan Fabre bei Wagner über alle Stränge schlagen oder nutzt die Oscar-Prominenz von Christoph Waltz für dessen Opernregiedebüt mit dem „Rosenkavalier“.

Dmitri Schostakowitschs Orgasmusoper „Lady Macbeth von Mzensk“ von Calixto Bieito inszenieren zu lassen, ist allerdings kein echtes Risiko. Nicht mehr jedenfalls. Das realistisch-illusionslose, dabei satirisch-griffig überhöhte Werk war schon bei seiner Uraufführung 1934 in der damaligen Sowjetunion ein Erfolg. Weil die handfest lebensdralle Musik zündete. Und weil die Story nachvollziehbar war: Eine Kaufmannsfrau in der Provinz, die vom Schwiegervater drangsaliert und vom Ehemann vernachlässigt wird, die beide umbringt und ihren Liebhaber heiratet. Als dann die Leiche im Keller zum Himmel stinkt, fliegt sie auf; schließlich zieht sie der sibirischen Verbannung den Tod im eiskalten Wasser vor. Wobei sie die neue Flamme ihres abtrünnigen Liebhabers gleich noch mitnimmt. Das konnten die Russen offenbar schon damals gut nachvollziehen.

Stalin war nicht erfreut

Vom Verdacht stalinistischer Staatskunst befreite der Diktator das Werk selbst. Der Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“, der 1936 kurz nach einem Besuch der Oper durch den roten Zaren erschien, ist ein Schlüsseldokument stalinistischer Kulturdogmatik. Das Werk war fortan in den Orkus verbannt, das Leben des Komponisten durchaus in Gefahr. Zum Glück überlebten beide. Seltsamerweise hat Schostakowitsch zehn Jahre nach Stalins Tod sein Werk zur „Katerina Ismailowa“ quasi entschärft.

In Antwerpen gibt es jetzt die heute meist gespielte ursprüngliche Version. Und dass der Russe Dmitri Jurowski am Pult des Symphonischen Orchesters der Flämischen Oper steht, sorgt für wuchtig musikalische Authentizität, ja rückt den Beitrag des Grabens (und der Bläser auf der Bühne und in den Seitenlogen) in die Nähe eines Elementarereignisses. Wobei der Dirigent keine Hemmungen hat, das Zwischenspiel nach dem Tod des Schwiegervaters in eine entrückte „Parsifal“-Dimension zu steigern. Auch bei den deftig sexuellen Konnotationen der Musik lässt er lustvoll die Zügel schießen.

Die Schraube der Schockästhetik

Dass es dabei auch ungewollte Lacher gibt, muss man in Kauf nehmen, wenn man es szenisch mit Sexakrobatik in Softpornonähe illustriert. Was die aus Litauen stammende Ausrine Stundyte als phänomenale Katerina und der Tscheche Ladislav Elgr als attraktiver Sergej neben ihren überzeugenden vokalen Leistungen recht glaubwürdig hinbekommen.

Wobei Calixto Bieito, dessen sprichwörtliche Brutaloästhetik einst für Buhstürme und knallende Türen im Zuschauerraum sorgte, längst nicht mehr an der Schraube seiner Schockwirkung dreht. Tempi passati – der Katalane geriert sich schon länger als der Erbe eines realistischen Musiktheaters. Wobei immer noch weder an Gewalt noch an Sex (meistens beides gleichzeitig) und auch nicht an Blut, Matsch und Düsternis gespart wird.

Die technoide Einheitsbühne von Rebecca Ringst ist ein düsteres spätindustrielles Konstrukt, das von einer Art Silo beherrscht wird. Wie Fremdkörper sind zwei steril modern gestylte Räume implementiert. Zu ebener Erde lebt Katerina, in der Etage darüber ihr Schwiegervater. Der ist bei dem mit stimmlicher Topform aufwartenden Altstar John Tomlinson ein Macho wie er im Klischeebuche aller Herren Länder steht. Einer, der Potenzprobleme mit geradezu sadistischen Gewaltexzessen kompensiert und die vergewaltigte Köchin als Sexsklavin gebraucht. Bei Bieito geht es auch jenseits eines tümelnden Naturalismus handfest zur Sache.

Dekonstruktion der Bühne

Wenn der Chor den Umbau zum letzten Akt auf offener Szene als eine wortwörtliche Dekonstruktion der Bühne vollzieht und dazu eine Tonspurmixtur aus menschlichem und maschinellem Lärm eingespielt wird, und das wie der Widerhall eines alles zermalmenden, erbarmungslosen Fortschritts klingt, wird solches zum Verweis auf das Exemplarische dieser Studie über zerstörerische Kraft patriarchalischer Gewaltstrukturen.

Die Übersteigerung der Polizeitruppe von der grotesken Karikatur in eine Soldateska von heute wäre da gar nicht nötig gewesen. Auch in der Schlussszene treibt Bieito der Ehrgeiz, gleich noch Janáčeks Totenhaus mit zu inszenieren. Wobei auch da Bieitos Personenregie fasziniert und den stärksten Eindruck hinterlässt. Die musikalische Wucht und die raffiniert suggestiven Zwischenspiele lassen Schostakowitsch in Antwerpen einmal mehr wie einen vitalen Widerpart von Richard Strauss erscheinen. Einhelliger Jubel, was auch sonst.

Termine: Antwerpen: 26., 29. März., 1., 3., 6. April

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema