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Oper Luzern
Frauenbewegung im Doppelpack

Starke Frauen, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ihren Wünschen und Sehnsüchten folgen - das verbindet die beiden Opern, die jetzt am Luzerner Theater Premiere hatten: Bizets "Carmen" ist ein Repertoire-Klassiker mit Publikumsgarantie. Da bietet es sich an, ihm ein weniger bekanntes Stück an die Seite zu stellen: "The Boatswain's Mate" von Ethel Mary Smyth.

Von Jörn Florian Fuchs | 25.02.2014
    Sie war Komponistin, Schriftstellerin und Feministin, die 1858 geborene und 1944 gestorbene Britin Ethel Mary Smyth. Sie tauschte sich mit Brahms, Tschaikowsky und Grieg aus, pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Clara Schumann und Virginia Woolf. Heute ist sie beinahe vergessen.
    Aus großbürgerlich konservativem Haus stammend, studierte Smyth gegen den Willen ihrer Eltern Komposition in Leipzig. Ihre vierte Oper, "The Boatswain's Mate", schrieb Smyth überwiegend in einem Hotel in Ägypten in den Jahren 1913 und 14. Der Aufenthalt hatte übrigens rein eskapistische Gründe. Smyth reiste viel, um den stickigen Konventionen ihrer Heimat zu entfliehen. 1916 wurde "The Boatswain's Mate" in London uraufgeführt, die Geschichte ist recht simpel: Ein Matrose verliebt sich in eine verwitwete Kneipenwirtin und will sie mit einem besonderen Manöver erobern. Ein Freund soll bei der Herzensdame einbrechen, worauf der Seemann zufällig hereinschneien und Interieur samt Angebeteter heldenhaft retten möchte. Dummerweise verlieben sich jedoch Pseudo-Krimineller und Schankfrau, sie legen den Dritten im Bunde mit einer Intrige herein.
    Die junge Regisseurin Hersilie Ewald verlegt die Handlung recht charmant auf ein Kreuzfahrtschiff, befördert den Werbenden kurzerhand zum Abendunterhalter mit Hang zu Schnulzen und Chargieren. Symths Partitur besticht durch elegante Gesangslinien und kräftigen Orchestersatz, auch die Form des Stücks ist interessant. Anfangs wird viel gesprochen, die Musik bleibt eher im Hintergrund, im zweiten Teil gibt es dann große Oper mit tollen Melodien, ausdifferenzierten Klangfarben, hörbar vom Geist der Entstehungszeit inspiriert und in den Details doch eigenständig. Anna Kovách glänzt als Umworbene mit Mut zu großer Geste und selbstbewusstem Gesang – eine starke Frau! Sehr erfreulich auch die lustvoll engagierte Junge Philharmonie Nordwestschweiz unter Andrew Dunscombe.
    "Carmen" – deutlich tragischer
    Deutlich tragischer verhält es sich mit Georges Bizets "Carmen", die Tobias Kratzer recht eigenwillig in Szene setzte. Eine starke Frau gibt es auch hier, es ist jedoch nicht die bewusst blass gezeichnete Titelfigur, sondern ihre Widersacherin Micaela: Jutta Maria Böhnert sprengt mit ihrem hinreißenden Gesang die biederen Fesseln ihres Mauerblümchen-Kostüms. Carolyn Dobbins Carmen hingegen meidet vokale Heißblütigkeit, sie wirkt eher wie ein aus "Pelléas et Mélisande" herein geschneites Zauberwesen.
    Für ihren Geliebten Don José trägt sie naturblond, für den Stierkämpfer Escamillo schlüpft sie ein Flamencokleid und stülpt sich eine Schwarzhaarperücke über. Kratzer spielt mit den Klischees der Oper und ihrer Rezeptionsgeschichte auf durchaus intelligente Weise, lässt aber vieles (bewusst?) offen und unklar. Bühnenbildner Rainer Sellmaier hat eine herrlich hässliche Kleinbürgerwohnung kreiert, die Fenster sind zugemauert, der Blick nach draußen gelingt nur über einen Flachbildfernseher, auf dem auch schon mal eine Corrida zu sehen ist. Als Kontrast zur Tristesse gibt es immerhin Sitzgelegenheiten im Bauhaus-Stil. Es handelt sich offenbar um Escamillos Wohnung, der zuhause gern Joggingklamotten trägt und mit Carmen nicht sehr pfleglich umgeht.
    Don Josés (Rück-)Eroberungsversuche laufen ins Leere, weil er nicht nur ziemlich hässlich aussieht, sondern auch noch geistig eher minderbemittelt wirkt. Zudem ist er ein Waffennarr und hantiert andauernd mit dem Schießprügel. Singen kann er trotzdem toll, Carlo Jung-Heyk Cho beherrscht die gesamte Palette, von trauriger Melancholie bis zu wütendem Furor. Der immer wieder nervös mitfiebernde Chor schaut sich die ganze Sache von den Seitenlogen aus an. Und Howard Arman am Pult des Luzerner Sinfonieorchesters trägt seinen Teil dazu bei, dass der Abend ans Herz und Nieren geht, ruppig rauscht Bizets flirrende Partitur auf, Gewalt bedeutet für Arman in erster Linie Lautstärke.