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Bühne und Konzert Mailänder Scala

Die Bunga-Bunga-Party als Fest des Lebens

Freier Feuilletonmitarbeiter
Die Tür fliegt auf in der Mailänder „Traviata“, und in den noblen Salon stürmen die Gäste. Die sehen genauso vulgär, halbnackt, grotesk und botoxbizarr aus wie viele im Zuschauerraum. Die Tür fliegt auf in der Mailänder „Traviata“, und in den noblen Salon stürmen die Gäste. Die sehen genauso vulgär, halbnackt, grotesk und botoxbizarr aus wie viele im Zuschauerraum.
Die Tür fliegt auf in der Mailänder „Traviata“, und in den noblen Salon stürmen die Gäste. Die sehen genauso vulgär, halbnackt, grotesk und botoxbizarr aus wie viele im Zuschauerra...um.
Quelle: AP
Eine blonde Deutsche als Primadonna: Die Starsopranistin Diana Damrau eröffnet im Verdi-Jahr die Mailänder Saison. Aus dem hoffnungsvollen Sopran ist ein zuverlässiger Star geworden.

Der Augenblick vor dem Auftritt. Er gehört ganz ihr. Intim, selbstvergessen. Ein letzter Blick in den Spiegel, das kornblumenblaue Kleid wird geschlossen, sie streicht über das ondulierte Blondhaar, fixiert die rote Kamelienblüte, setzt noch ein paar geschminkte Glanzlichter auf die Lider, lässt sich den üppigen Schmuck anlegen, wirft sich in Pose. Mag jetzt kommen, was will.

Für die echte Diana Damrau ist dieser Moment in der Garderobe schon vorbei, doch jetzt erlebt ihn die deutsche Starsopranistin noch einmal auf der Bühne – als Verdis Violetta Valery in der festlichen „Traviata“-Premiere in Mailand, Auftakt der Scala-Saison und Abschluss des italienischen Verdi-Jahres zu dessen 200. Geburtstag. Dann spielt das formvollendet lahmende Orchester unter dem bleifüßigen Daniele Gatti, der schon dieses Vorspiel öde zelebriert hat, einen Tusch – und noch einen.

Mara Zampieri, auch in diesem Saal einst eine Primadonna, jetzt als pumuckelrote Vertraute Annina im Glitzerkaftan auf die Bühne ihrer Triumphe zurückgekehrt, fährt den Spiegel hinaus, die Tür fliegt auf, und in den klassizistisch noblen Salon stürmen die Gäste. Die sehen genauso vulgär, halbnackt, grotesk botoxbizarr aus wie viele im Zuschauerraum. Mag die Bunga-Bunga-Party als Fest des Lebens beginnen!

Netrebkos Kleid passt ihr

Vor dreißig Jahren begann das schon mal in einem Kino, als ein zwölfjähriges, bayerisch-schwäbisches Kleinstadtmädchen sich in die großäugig fragile, bleichgesichtige Teresa Stratas verguckte. Die liebte und litt, sang und seufzte so schwindsüchtig wunderschön auf der Leinwand, starb schließlich in den Armen von Plácido Domingo. Nach dem Genuss von Franco Zeffirellis üppig kostümprächtiger Verdi-Verfilmung „La Traviata“ stand für die kleine Diana Damrau fest: Das wollte sie auch! Irgendwann im Leben.

Man muss zwar dafür arbeiten, aber manche Träume gehen eben auch in Erfüllung. Aus dem hoffnungsvollen Sopran wurde ein zuverlässiger Star, gefragt in New York, Barcelona, München, London, und Wien. Längst also ist Diana Damrau die bekannteste Günzburgerin unserer Zeit – und nicht mehr Josef Mengele oder Petra Kelly. Und die Koloraturkönigin entwickelte sich dank der guten Tragfähigkeit ihrer Stimme und einem schönen Mittellagefundament, zu dem kürzlich auch noch zwei Schwangerschaften positiv beigetragen haben, weiter zum lyrisch-dramatischen Sopran. Gilda und Lucia di Lammermoor, die kleine und die wahnsinnige Schwester von Verdis großer Kurtisane Violetta, hat sie längst ihrer geläufigen Gurgel einverleibt.

Im März dieses Jahres war es dann soweit – und nicht an einer kleinen Klitsche, denn auch da hätte es irgendwer aufgenommen und ins Internet gestellt: La Damrau zog sich an der Metropolitan Opera in New York das einst von Anna Netrebko in Willy Deckers Salzburger Inszenierung getragene fuchsiafarbene Kleid an und war die totkranke Traviata, „die vom Weg abgekommene“, der für die Sängerin doch der genau richtige ist. Mit Haut, (falschem) Haar und Stimme. Und Plácido Domingo, inzwischen vom Tenor zum Bariton abgesunken, war Père Germont, der erst wütende, dann betroffene Vater ihres Liebhabers Alfredo, mit dem sie eines der schönsten Duette des ganzen Opernrepertoires zu singen hat.

Der lange Schatten der Callas

In Zürich hat Diana Damrau dann die Rolle noch weiter vertieft, aber das Märchen ist noch nicht zu Ende: Den ihre dritte „Traviata“ und ihre erste Premiere in ihrer Traumrolle, war jetzt eben dieser Sankt-Ambrosius-Tag in Mailand, immer noch der am meisten beachtete Eröffnungsabend im internationalen Musiktheater-Kalender.

Eine blonde Deutsche als Verdi-Primadonna. Das ist in Italien immer noch eine Sensation. Gut, an der Scala hat Jonas Kaufmann als Don José und Lohengrin zur Eröffnung Erfolge eingefangen, Anja Harteros, Annette Dasch und Waltraud Meier wurden im Wagner-Fach gefeiert. Und auch die Damrau sang schon 2005 bei der Inaugurazione im renovierten Haus in einer Salieri-Oper und später Mozarts Susanna. Doch man muss in der Opernchronik schon bis zu Verdis frühen Jahren zurückblättern, um hier deutschsprachige Sängerinnen wie Caroline Unger, Sophie Löwe oder – bei der Mailänder „Traviata“-Erstaufführung 1859, sechs Jahre nach der Kreation in Venedig – Enrichetta Weiser in seinen Heldinnen-Rollen zu finden.

Zudem liegt über der „Traviata“, neben dem „Rigoletto“ die populärste Verdi-Oper überhaupt, ausgerechnet an der Scala ein langer Schatten: der von Maria Callas, die am 2. Dezember ihren 90. Geburtstag gefeiert hätte, und die 1955 und 1956 in 17 Vorstellungen (wovon zwei aufgezeichnet wurden) in der Regie von Luchino Visconti und mit Carlo Maria Giulini am Pult wohl die Traviata des Jahrhunderts gesungen hat. „Sie hat nicht Rollen gesungen, niemals, sondern auf der Rasierklinge gelebt“, schrieb damals ergriffen Ingeborg Bachmann.

Armani kam, der Staatspräsident auch

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Dieses Ereignis war schon 1964 so mythisch verklärt, dass Mirella Freni in Zeffirellis Nachfolge-Produktion unter Herbert von Karajan wütend von der Bühne gebuht wurde – nach drei Vorstellungen wurde sie wieder abgesetzt. Dann gab es erst 1990 eine neue „Traviata“ unter Riccardo Muti, die mit der heute schon wieder vergessenen Tiziana Fabbricini und dem jungen Robert Alagna den Callas-Bann brach. Die Filmregisseurin Liliana Cavani, 1974 mit Nazi-Sex im „Nachportier“ berüchtigt geworden, inszenierte brav plüschig-bombastisches, auch auf Scala-Tourneen sehr beliebtes Empire, das bis 2008 hielt.

Und jetzt also die erste zeitgenössische „Traviata“ mit einer Deutschen an dem konservativen Haus, das finanziell nicht toll dasteht, und sich nur diesen einen von zehn Spielzeittiteln als echte Neuproduktion leistet. Draußen war alles wie immer am Feiertag des Stadtheiligen Sant’Ambrogio, mit einer netten, kleinen Demonstration vor der Scala, ganz pauschal den „Krieg gegen die Armen“ anprangernd.

Die Justizministerin sah sich die Premierenübertragung in einem Gefängnis an, aber von dem vor dem Bankrott stehenden Teatro Bellini in Catania, einem der schönsten historischen Häuser des Geburtslandes der Oper, redete keiner. Und auch drinnen schob sich unter Blitzlichtgewittern die aufgedonnerte, in den seltensten Fällen wegen des Musikgenusses gekommene Prominenz von Giorgio Armani bis zum Staatspräsidenten Napolitano durch die engen Gänge.

Radikalrustikale Landhausküche

Erst bat am Dirigentenpult Daniele Gatti um eine Schweigeminute für Nelson Mandela, bei der endlich auch kein Mobiltelefon flimmerte, dann ließ er verhalten und delikat die sonst gerne blaskapellenblecherne Nationalhymne „Fratelli d’Italia“ spielen: der musikalisch spannendste Moment des Abends, wie sich noch herausstellen sollte. Nach ein paar „Viva Verdi!“-Rufen erklangen dann endlich die zweitgeteilten Violinen mit ihren sterbensmüd-pochenden „Traviata“-TBC-Linien.

Der russische Meisterregisseur Dmitri Tcherniakov inszenierte ruhig, analytisch-kühl, modern in historisierendem Ambiente. Seine drei eigenen Bühnenbilder sind immer klaustrophobische, von sechs Wandleuchtern gerahmte Räume, zwei Salons und Violettas radikalrustikale Landhausküche, ohne echten Ausgang. Türen führen ins Nichts, durchs Fenster sieht man eine weiße Wand oder eine Projektion von Bäumen.

Die Beziehung zwischen Alfredo und Violetta, sie ist von Anfang an wie ein Nebeneinander auf zwei parallelen Gleisen, so wie sie auch in der Partitur fast nie gemeinsam singen. Hysterisch übersteigert von ihm am Anfang, am Ende eiseskühl, nur noch Formalien erfüllend. Eher abwehrend zunächst von ihr, sie braucht ihn nicht, ist sich selbst genug, dann aber seine Gefühle aufsaugend, schließlich sich sterbend in den Zweisamkeitswahn flüchtend.

Alkohol und andere Aufputschmittel

Piotr Beczala singt das mit verhärtendem, aber klarem, virilen Tenor und bleibt dennoch ein unsympathischer Waschlappen, der bald eine andere finden wird; darin wohl von seinem Vater bestärkt, den Zeljko Lucic muffelig spielt und in der ausgedörrten Höhe mau singt.

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So ist es, auch weil Daniele Gatti erst im letzten Akt wirklich wach wird, soghafte Sterbeatmosphäre eines melodramatischen Verlöschens beschwört, ganz der Abend der Damrau. „Zupacken, reinbeißen wie in ein saftiges Steak und sich dann freuen“, hat sie vorher als Motto verkündet. Sie ist glamouröse Gunstgewerblerin als Arbeitsbiene, mit Alkohol und andern Aufputschmitteln als Begleitern, droht schelmisch in Puschen mit dem Nudelteigholz und wird ganz fragil im Tod, wo sie doch so lange gesund wirkte. Der deutschen Kanzlerin nicht unähnlich, ist sie mal Hausfrau, mal Macherin, hier auch Sünderin und endlich Diva.

Diana Damrau findet vom sicher platzierten hohen Es in der großen „Sempre libera“-Arie bis zum fiebrigen Finale schier unendliche Zwischentöne für diese Figur, die sich erst spät selbst entgleitet, zum Mythos transzendiert. Sie stirbt im Stuhl, so wie einst die Callas, deren Schatten abschüttelnd, weil dies ganz allein die Violetta Valery der Diana Damrau geworden ist. Der Beifall des endlich wachen Publikums ist dementsprechend.

Termine: 12., 15., 18., 22., 28., 31. Dezember, 3. Januar; drei Monate kostenlos auf Arte Live Web abrufbar.

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