Kein Puccini-Anschluss unter dieser Regienummer

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"La Bohème". Die verknappte, für kleines Ensemble arrangierte Version überzeugt in ihrer Direktheit vor allem musikalisch. Szenisch wird mit bester Absicht am Libretto vorbei inszeniert. Das geht zunächst nicht gut.

„La Bohème“? Ist das nicht diese etwa zweistündige Oper, die teilweise an einem Würstelstand an der Autobahn spielt, mit einem Punk-Girl in der Hauptrolle, was aber vielen egal ist, solange es sich dabei um Anna Netrebko handelt? Weit gefehlt. „La Bohème“ dauert nur 90 Minuten, spielt teilweise in einem modernen Penthouse, das irgendwie gleichzeitig auch eine Boutique ist, und am Schluss in einem Krankenhaus, das immerhin keine Boutique mehr ist.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für Kostümschinken auf offener Bühne. Mit welchen Mitteln, also „modernen“ oder „traditionellen“, eine Opernregie den Inhalt eines Werkes (nicht zu verwechseln mit der reinen Handlung!) herausarbeitet, ist zunächst sekundär und sagt noch nichts über die Qualität aus. In Jahrzehnten des sogenannten Regietheaters kristallisierte sich aber heraus, dass aktualisierende Ansätze, die ein Geschehen einfach in die Gegenwart beamen, tendenziell schwächer sind als solche, die neutral die Zeitlosigkeit des Inhalts herauspräparieren – was freilich eine viel komplexere Aufgabe ist.

Beim Verismo mit seinen lebenssatten Details stößt die Aktualisierung sowieso bald an ihre Grenzen. Und wenn die Regie – und damit sind wir bei der aktuellen „La Bohème“-Produktion in der Wiener Kammeroper – bei einem veristischen Werk nonchalant die Ausgangslage auf den Kopf stellt, funktioniert die ganze Oper nicht mehr.

In der Theorie klingt es ja nicht schlecht, was sich Regisseurin Lotte de Beer in der Dependance des Theater an der Wien da ausgedacht hat: An die Stelle der äußeren Armut der Künstler-WG setzt sie deren postulierte innere, seelische Armut. Die vier fidelen Freunde sind hier keineswegs mittellos, sondern zynismusbegabte Möchtegernkünstler aus Bobostan, für die Mami und Papi sicher schon die Pensionsvorsorge angelegt haben. In der Praxis bedeutet das freilich, dass de Beer eiskalt vier Akte lang am Libretto vorbeiinszeniert. Das erzeugt keine höhere Erkenntnis, sondern kognitive Dissonanzen. Ein Beispiel: Wenn im vierten Akt Musetta (mit kraftvollem Sopran: Anna Maria Sarra) singt: „Hier, mein Schmuck, schau um einen Arzt“, ist das absurd. Im Spital, wohin das Finale ja verlegt wurde – der Tod im 21. Jahrhundert ist ein steriler –, gibt es wohl keinen Arzt, und wer die Herren im weißen Kittel vorher waren, weiß der Himmel.

Mimi und Rodolfo gewinnen an Form

Nun aber zu den guten Nachrichten: Je länger diese verknappte „Bohème“ dauert, desto stärker gewinnt die Kraft der diesem Werk innewohnenden Emotionen die Oberhand, und das extrem engagiert agierende, junge Sängerensemble tut das einzig Richtige: Es liefert sich diesem Strom an Emotionen aus, schwimmt auf seinen Wellen obenauf. Beide Hauptprotagonisten kommen im Lauf des Abends stimmlich auch immer besser in Form: Die anfänglichen Schärfen von Çiğdem Soyarslans Mimi schleifen sich sukzessive ab, Andrew Owens als Rodolfo weiß im Forte allerdings eindeutig mehr zu überzeugen als in den mindestens ebenso wichtigen Piano-Passagen. Vom Rest der WG ragt stimmlich wie darstellerisch vor allem Ben Connor als Marcello heraus, mit sicher und wohltönend geführtem Bariton.

Von überraschender Wirkung ist die von Jonathan Dove 1986 auf ein Kammerensemble reduzierte Partitur, die in ihrer Schlichtheit zum intimen Rahmen der „Bohème“ passt. Claire Levacher am Pult des gut disponierten Wiener Kammerorchesters gelingen intensive, in der Reduktion direkt ansprechende Interpretationen und besonders im dritten und vierten Akt Momente von berührender Schönheit. Die von Sinem Altan neu komponierten Interludien mit Geräuschkulissen der Gegenwart stören nicht, dass sie zwingend zum Verständnis nötig wären, kann man freilich auch nicht behaupten.

Am Ende hält Rodolfo noch lange den Telefonhörer in der Hand, während seine Mimi schon längst hinübergedämmert ist. Ein ungewollt treffendes Bild: kein Puccini-Anschluss unter dieser Regienummer.

Aufführungen am 23., 26., 30. Jänner sowie am 1., 10., 15., 17., 21. und 24. Februar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2013)

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