Carmen (Maria La Monaco) zum Angreifen.

Foto: Stofleth

Es gibt so manchen Opernintendanten, der gern von der Öffnung seines Hauses zur Stadt hin spricht, von neuen Publikumsschichten und den jungen Leuten, die freiwillig kommen. Der Belgier Serge Dorny, der seit 2003 das Opernhaus in Lyon führt, dem Jean Nouvel 1989 eine markante Dachkonstruktion und ein spektakulär modernistisches Innenleben verpasst hat, redet auch über all das mit Enthusiasmus - aber nicht wie von einem Wunschtraum. Er beschreibt sein Projekt. Und genau damit hat Dorny in Lyon einen erstaunlichen Erfolg.

Eine Durchschnittsauslastung von 97 Prozent bei nur 23 Prozent Abonnenten in einer Stadt, die eine halbe Million Einwohner hat und den Kern einer Agglomeration von anderthalb Millionen Menschen bildet, von denen ein Großteil in den problembeladenen Vorstädten lebt, das lässt sich vorzeigen, setzt aber auch viel Arbeit vor Ort voraus. So geht Dorny mit seiner Spielzeitpräsentation nicht nur in jeden Bezirk der Stadt, sondern hat auch eine Reihe von Projekten für Kinder aus den Randbezirken entwickelt.

Und tatsächlich: Die heuer von Olivier Py und Stefano Montanari ohne jede Spanienfolklore gegen den Strich gebürstete neue Carmen war tatsächlich ausverkauft. Beim Blick aufs leger anrückende, mit alltäglicher Selbstverständlichkeit durch die Jazz-Session im Operncafé oder an den Breakdancern (die bei Serge Dorny sogar in der Oper üben dürfen) vorbei ins Haus strömende Publikum, bestätigt der Augenschein auch seine Publikumsanalyse: im Durchschnitt sind hier 52 Prozent jünger als 45 und 25 Prozent sogar jünger als 26 Jahre alt. Das ist in Lyon aber nicht nur beim Selbstläufer Carmen so, sondern auch bei Schostakowitschs Nase.

Üppiges Varieté

Olivier Py, der 2014 das renommierte Festival in Avignon übernehmen wird und im Theater an der Wien gerade dem Hamlet von Ambroise Thomas nachgespürt hat, stand bei dem ausgeflippte Regisseure liebenden deutschen Intendanten bislang nicht auf der Agenda. Selbst Nikolaus Bachler hat bis 2013 gewartet, wo Py die Münchner Opernfestspiele mit Verdis Troubadour eröffnen wird.

Jetzt lässt er jedes Spanienklische beiseite. Pierre-André Weitz hat ihm ein üppiges Varietétheater auf eine Drehbühne gesetzt. Flankiert von einem (Stunden-)Hotel, in dem die brave Michaela (Nathalie Manfrino) absteigt und einer Polizeistation, bei der die Trikolore gleich zu Beginn durch einen roten Unterrock ersetzt wird und in der José (Yonghoon Lee) seinen Dienst tut. Wenn der Vorhang der Bühne auf der Bühne aufgeht, werden sowohl die Habanera der Carmen von Maria La Monaco im Eva-Kostüm mit echter Schlange und vor Urwaldkulisse ebenso wie das Auf in den Kampf Escamillos (markant: Giorgio Caoduro) als Höhepunkte einer Revue ins Publikum geschmettert. Vor allem die Männer in der ersten Reihe, gleich hinter der Rampe, kommen auf ihre Kosten. Jedenfalls gibt es viel oben ohne.

In dieser Welt verwandeln sich die Schmuggler in attraktive Transvestiten und Don José versucht sich als trauriger Clown, der vom Star Escamillo auch bei Carmen ausgestochen wird. Nicht nur wenn einer der Tänzer immer wieder als Tod durch die Szene geistert, schwingt in den hochkochenden Rivalitäten mehr latente Gewalt mit, als dem Künstlerleben guttut. Da scheint auch der Geist der Entstehungszeit, in der die Pariser Kommune nachhallte, auf.

Bizets Carmen ist eben keine spanische, sondern eine dezidiert französische Musik, die der Barockspezialist Montanari transparent und unpathetisch dirigiert. Am Ende gibt es den großen Eifersuchtsmord an der Rampe, auf den alles zuläuft, wobei diese Carmen trotzig wieder aufsteht und erhobenen Hauptes ihre Bühne verlässt. Py war zwar schon düsterer, radikaler und provozierender, doch mit einem originellen und ungewohnten Blick nähert er sich Bizet allemal.

Dorny hat sein Projekt Lyon in einem Jahrzehnt mit imponierendem Erfolg entwickelt. Die Pariser Nationaloper ist eigentlich nur größer - interessanter ist sie schon lange nicht mehr. Sollte sich die Ära des farblosen Mortier-Nachfolgers Nicolas Joel ihrem Ende nähern, wäre Serge Dorny der natürliche Anwärter auf den Pariser Opernthron.  (Joachim Lange aus Lyon, DER STANDARD, 12.7.2012)