Im schwarzen Raum und an der Rampe

Die Wiener Staatsoper zeigt als neuste Premiere Giuseppe Verdis «Don Carlo» in der von Daniele Abbado inszenierten vieraktigen Mailänder Fassung.

Daniel Ender
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Ramón Vargas und Simon Keenlyside im Wiener «Don Carlo». (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Ramón Vargas und Simon Keenlyside im Wiener «Don Carlo». (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Wer noch vor wenigen Jahren in eine Repertoirevorstellung an der Wiener Staatsoper geriet, musste auf herbe Enttäuschungen gefasst sein. Inszenierungen verloren nach und nach nicht nur darstellerischen Feinschliff, sondern auch solche Kleinigkeiten wie handlungsrelevante Requisiten. Musikalisch glich so manche Vorstellung einem Glücksspiel – Resultat mangelnder Proben im Verein mit einem ausufernden Substitutionsprinzip bei den Orchestermusikern.

Bei seinem Amtsantritt in der vergangenen Saison hat der neue Direktor Dominique Meyer diesen Zuständen – diplomatisch im Ton, aber konsequent in der Sache – den Kampf angesagt und erstaunlich rasch Abhilfe geschaffen. Ältere Produktionen wurden szenisch aufgefrischt, und es wurden nachhaltige Probenbedingungen geschaffen, die auch im Orchestergraben und im Zusammenspiel mit der Bühne für ein hohes Mass an Zuverlässigkeit sorgen.

Konsolidierung auf neuem Niveau

Substanziell daran beteiligt ist der Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst, der zusammen mit Meyer seine neue Stellung angetreten hat und sich wie dieser nicht nur durch hohe Präsenz im Haus auszeichnet, sondern sich auch spürbar um praktische Fragen des Opernalltags kümmert. Entsprechend dirigiert er nicht nur im Scheinwerferlicht von Neuproduktionen, sondern leitet auch – ein nicht nur symbolisch entscheidender Umstand – etliche reguläre Vorstellungen in der gesamten Breite des Programms.

Zweifellos hat sich also der Repertoirebetrieb auf einem neuen Niveau konsolidiert. Dass sich damit allerdings auch der Qualitätsunterschied zwischen gewöhnlichen Aufführungen und Premieren reduziert hat, ist nicht bloss eine Folge unausweichlicher Logik. Vielmehr setzt die neue Direktion bei den Leading Teams vorrangig auf Berechenbarkeit und vermeidet, vor allem bei den Regisseuren, jegliches Risiko – von Visionen ganz zu schweigen.

In anderer Weise bedeutete die neuste Premiere, Verdis «Don Carlo», dennoch ein Wagnis. Denn die Staatsoper hat zurzeit auch die französische Urfassung in der Inszenierung von Peter Konwitschny im Repertoire, die nach den schlimmsten Anfeindungen, als sie 2004 erstmals in Wien gezeigt wurde, inzwischen zu so etwas wie einer Kultproduktion avanciert ist. In diesem Frühjahr war sie mit einer neuen Besetzung und ihrer alten, unübertrefflichen psychologischen Dichte wieder zu sehen gewesen.

Aufgrund der schieren Länge ihrer fünf Akte fordert sie freilich auch eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Die vieraktige Mailänder Fassung ohne den (ursprünglich ersten) Fontainebleau-Akt hält sich hingegen nicht bei der Liebesgeschichte zwischen Don Carlo und Elisabetta auf, sondern zeigt sogleich den Infanten inmitten seiner ödipalen Konflikte. Diese nachvollziehbar zu machen, ist die erste Herausforderung für den Regisseur.

Daniele Abbado liess zwar beim Vorspiel den spanischen Hofstaat vorüberziehen, kenntlich wurden die Beziehungen zwischen den Figuren dadurch aber kaum. Ganz allgemein liess es seine Inszenierung daran fehlen. Zwar gab es einen sanft dekonstruktivistischen szenischen Rahmen mit beweglichen Ebenen (Bühnenkonzeption: Graziano Gregori, Bühnenbild: Angelo Linzalata), die sich für einen Blick ins Offene ebenso verschoben wie für die Enge eines Verlieses. Auch wurden innerhalb dieses schwarzen Raumes plausible Deutungsansätze erkennbar, wenn etwa die Personen an die Grenzen des Gemäuers stiessen oder König Filippo II., unterstrichen durch virtuose Lichteffekte (Alessandro Carletti), ins Abseits zu stehen kam. Doch davon abgesehen dominierte die Konvention, vollführten die Sänger plakative Gebärden der Bedrängnis und Verzweiflung – und sangen ein Gros ihrer Partien stehend und/oder an der Rampe.

Freilich wäre selbst eine konzertante Aufführung hörenswert gewesen. Welser-Möst sorgte mit dem detaillierten, nur mitunter ein wenig zu lauten Orchester für ausgesuchte Farbmischungen, ein hohes Mass an innerer Durchhörbarkeit und atmende Tempi. Spürbar wurde ebenso, was keineswegs selbstverständlich ist, die substanzielle gemeinsame Gestaltung in der instrumentalen Klanggebung und Phrasierung mit den Sängern.

Hörbare psychologische Profile

Akustisch gab es somit doch noch jene psychologische Durchdringung, die sonst weitgehend fehlte – vor allem bei Krassimira Stoyanova als vom Lyrischen bis zum äussersten Gefühlsausbruch homogener Elisabetta und bei Simon Keenlyside, der als Rodrigo aus farblichen Abstufungen eine unheimliche Spannkraft entwickelte. Ramón Vargas porträtierte die zerbrechliche Titelpartie mit metallischem Aufbrausen. In der Rolle der Eboli legte Luciana D'Intino zwar ein keineswegs ausgeglichenes Timbre, aber doch starke Dramatik an den Tag, und René Pape machte die Zerrissenheit des Filippo allein durch voluminöse Schwärze und Fahlheit deutlich.

Angesichts solcher Leistungen geriet der Abend umstandslos zum sprichwörtlichen «Sängerfest»; Enttäuschung über die Regie wurde nicht laut. Gemessen am Publikumserfolg hat man bei der letzten Premiere der laufenden Spielzeit vielleicht sogar alles richtig gemacht. Gleich hohe Anforderungen an alle Ebenen einer Aufführung bleiben jedenfalls am Opernring 2 in Wien ein Minderheitenprogramm.