So von Sympathie getragen wie in Wien ist Simone Young in Hamburg, wo sie die Oper und deren Orchester leitet, keineswegs. Lorbeeren wie jene, die ihr die Wiener Kritiker kürzlich für ihre Daphne flochten, hat sie im deutschen Norden nicht geerntet. Da wird sie auch schon mal bei einer Don Giovanni-Premiere nach der Pause mit Buhrufen empfangen. Aus der Wirkungsmacht, die Ingo Metzmacher und Peter Konwitschny an der Oper am Gänsemarkt hinterließen, konnte sie sich jedenfalls nicht befreien. Und an Liebermann-Glanzzeiten anknüpfen schon gar nicht.

Dass ihr ausgerechnet mit Aribert Reimanns Lear ein Wurf gelang, ruft nicht nur in Erinnerung, wozu dieses Haus fähig ist, sondern hat auch noch eine historische Pointe. Eigentlich war Lear ein Auftrag aus Hamburg. Den nahm August Everding bei seinem Wechsel nach München aber einfach mit, und so kam es 1978 an der Isar und nicht an der Elbe zu jener legendären Uraufführung von Jean-Pierre Ponnelle mit Dietrich Fischer-Dieskau.

Bei der verspäteten Hamburg Erstaufführung trägt jetzt Bo Skovhus die Last der Krone bzw. der Selbsterkenntnis im Wahnsinn. Und der Däne macht das großartig. Dass er dabei gänzlich ohne Altmännerattitüde auskommt und dennoch überzeugt, liegt an seinem Können, aber auch an der klugen Inszenierung der in Deutschland vor allem mit ihren Barockinterpretationen bekannt gewordenen österreichischen Regisseurin Karoline Gruber.

Alles beginnt geschäftsmäßig. Die Akteure versammeln sich wie zu einem normalen Notar-Termin, dabei geht es um die Teilung eines Reiches. Auf der von Roy Spahn klug bestückten, offenen und mühelos zwischen Schauplätzen wechselnden Drehbühne konzentriert sich Gruber aufs Exemplarische. Dabei gelingt es, dem Zuschauer die Perspektive Lears nahezubringen. Wenn er mit seinen Männern durchs Land zieht, dann sind es lauter Alter Egos, die ihm Gesellschaft vortäuschen und damit seine eigentliche Einsamkeit nur noch deutlicher machen. Mechthild Seipel hat sie alle in die Reiterhosen des Königs gesteckt.

Die stimmige Inszenierung gibt der Musik ihren Raum und erwächst aus ihrem Geist. So intelligent und sinnlich zugleich wird heute nicht oft inszeniert. Was auch an dem handverlesenen Ensemble um Skovhus liegt: Von den grandios auftrumpfenden Töchtern Goneril (Katja Pieweck), Regan (Hellen Kwon) und Cordelia (Ha Young Lee) über den virtuosen Andrew Watts, bis hin zum singsprechenden Schauspieler Erwin Leder als Narr.

Im Graben war dieser Lear natürlich Chefinnen-Sache. Young bewältigte sie mit ihren Philharmonikern glänzend: Souverän, mit sensiblem Sinn für die vokale Verständlichkeit, doch auch mit dosierter, stets transparenter Orchesterwucht für die wachsenden Gräuel und vor allem mit trauriger Dunkelheit für die Vereinsamung des Königs, dessen Weg in den Wahnsinn zugleich der Weg ins eigene Ich ist. (Joachim Lange, DER STANDARD - Printausgabe, 31. Jänner 2012)