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Kultur

Ohne Macht bleibt dem König nichts

"Lear" von Aribert Reimann an der Staatsoper Hamburg

Will Quadflieg befand einmal, dass der Lear für einen Schauspieler immer zur Unzeit komme. Ein junger Mime kann die Fallhöhe nicht ermessen, ein alter Meister bekommt Konditionsprobleme. Was für Shakespeares tiefschwarzes Trauerspiel gilt, gilt für Aribert Reimanns Opernanverwandlung verschärft. Muss der Sänger der Titelpartie doch erhebliche vokale Verrenkungen vollziehen. Reimann komponierte die Partie 1978 dem Bariton der Münchner Uraufführung in die Kehle: Dietrich Fischer-Dieskau, an dem sich seither alle Sänger messen lassen müssen.

Bo Skovhus wagt sich jetzt an der Staatsoper Hamburg an den leidenden Alten, dem Regisseurin Karoline Gruber freilich erlaubt, seine Gestalt kaum wandeln zu müssen. Im besten Mannesalter tritt der Däne also auf, im kräftigen Sängersaft stehend. Lears unbändiges, sich überschätzendes Ego treibt den König in die Isolation und macht ihn zu einem Reimannschen Wotan: Der Traurigste ist er von allen. Ein Tragischer sowieso. Ein Machtmensch, der so gern auch Mensch wäre und geliebt sein möchte - um am Ende zum Narren zu werden.

Ist Bo Skovhus ein Lear? Kann der muskulöse Frauenfreund, der bei Konwitschny bereits ein intensiv unopernhafter Wozzeck war, den König geben, der nicht aufhören kann zu herrschen? Eine kleine feine Nuance Aribert Reimanns inspirierte Karoline Gruber, aus dem König einen Jedermann zu machen. Schließlich spricht der Komponist seinem Protagonisten listig den Rang eines Potentaten ab, nennt ihn einfach Lear. In schnittige Breeches-Uniformhosen, Schaftstiefel, weißes Hemd, Hosenträger und Krawatte steckt er bei Kostümbildnerin Mechthild Seipel. Skovhus macht darin eine gute Figur.

Und er singt in vollkommener Durchdringung der Rolle mit deutlichster Diktion, warm timbriert, farbenreich, anrührend und eindringlich. Ja, sein Rollendebüt als Lear kommt für Skovhus zur rechten Zeit. Den Verfall eines Königs, der sein Reich aufteilt, zeichnet Gruber weniger als dessen Abstieg ins Debile. Albtraumhafte Selbstzweifel setzen ein, als Lear den Chorherren in die Augen schaut, die nichts als Abbilder seiner selbst sind. Was bleibt von der Identität eines Mächtigen, wenn er die Macht abgibt? Lear trägt einen seiner Stiefel in der Hand, Szene für Szene legt er Teile seines Kostüms ab. Er wird auf sich selbst zurückgeworfen.

War in Einblendungen zu Beginn vom "König" zu lesen, begleitet Lears Identitätskrise nun das "Nichts", aus dem sich allmählich ein "Ich" löst. Die plakative Markierung eines Learschen Erkenntnisprozesses im Bühnenbild von Roy Spahn, der einen Irgendwo-Warteraum und einen nirgendwohin führenden Tunnel auf die Bühne stellt, wird von Karoline Grubers präziser Personenregie (zumal Lears böse Töchter, Katja Pieweck als Goneril und Hellen Kwon als Regan, sind in ihren spießbürgerlichen Sehnsüchten trefflich charakterisiert) aufgefangen, bis zum hellsichtigen Ende mit unaufgeregter Genauigkeit erzählt.

Den einsetzenden Wahnsinn Lears macht Skovhus in der Heideszene mit einer Mimik frei nach Munchs "Der Schrei" bestürzend deutlich, um zum tristanesken Ende eines "Tod denn alles! Alles tot!" zu einem seligen Lächeln zu finden. Im flageolett-umflort streicherzarten Schlussmonolog verströmt Reimann einen Hoffnungsschimmer, dem Gruber vertraut. Ihr Lear löst sich von der Welt, findet zu sich - und darf leben. Simone Young lässt das Finale wie alle anderen lyrischen Passagen mit feiner Imaginationskraft spielen. Lediglich bei Glosters Blendung scheint Young der Mut zur Zumutung und Zuspitzung des expressiven Extrems zu fehlen.

Die enorme Wirkungsmacht dieser Musik stellt sich indes ein. Da werden bei der Erstaufführung in Hamburg Erinnerungen an gute alte Staatsopernzeiten wach, in denen das Unerhörte für die Deutungshoheit eines der weltweit ersten Opernhäuser stand. Davon war man in Hamburg zuletzt weit entfernt.

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