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GMD Sebastian Weigle: „Ich werde mein Handy nach 14 Uhr tunlichst ausstellen“

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„Ich habe immer sofort weitergearbeitet, aber wenn ich jetzt nach Frankfurt zurückkomme, werde ich nicht mehr direkt ins Opernhaus gehen“, sagt Sebastian Weigle. Foto: Renate Hoyer
„Ich habe immer sofort weitergearbeitet, aber wenn ich jetzt nach Frankfurt zurückkomme, werde ich nicht mehr direkt ins Opernhaus gehen“, sagt Sebastian Weigle. Foto: Renate Hoyer © Renate Hoyer

Sebastian Weigle, Frankfurts scheidender Generalmusikdirektor, über ein Leben mit etwas mehr Freizeit, über Pult-Diktatoren, die hinteren Orchesterplätze und Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“.

Im Arbeitszimmer von Sebastian Weigle, einem verblüffend verwinkelten Raum mit zweitem Stöckchen, sieht noch alles aus wie immer. Weigle spricht auch wie immer, sofort über Musik und zweifellos bis in die letzte Reihe zu verstehen. Zwischendurch singt er ausgezeichnet (keine Selbstverständlichkeit, es gibt Dirigenten, die wirklich schlecht singen). Er ist im Umgang so nett, klar, geradeaus und auf seine Weise sogar so witzig, wie die meisten Berliner sich vorkommen und die allerwenigsten sind.

Herr Weigle, zum Abschied haben Sie jüngst in der Alten Oper Bruckners letzte Sinfonie und sein Te Deum dirigiert. Feierliche Momente, vermute ich.

Es sind feierliche Momente, es ist immer eine Feier. Komponisten wie Bruckner, Mahler, Bach, Mozart, Beethoven sind immer Feiern. Bruckners für seine wunderbare Klosterkirche in St. Florian geschaffene Werke muss man sich auch dort vorstellen, selbst wenn man nie da gewesen ist. Ich habe mal seine 4. Sinfonie in Wien gemacht, mehrere Konzerte, das letzte im Stephansdom. Was ich da das Tempo reduzieren musste! Also, ja, es ist feierlich, es ist heilig, es ist traumhaft, und wir waren in bester Kompanie. Das Orchester spielt leidenschaftlich gerne Bruckner, ich dirigiere ihn sehr gerne.

Entdecken Sie da noch Neues?

Selbstverständlich. Gerade wenn man ein Werk einige Jahre nicht gemacht hat, ist fast alles wieder neu. Ich könnte mir vorstellen, dass ich mir später auch einmal wieder Blankonoten besorge, um ganz neu anzufangen. Allerdings stecken in den Noten auch die ganzen Erinnerungen, selbst wenn mich viele Eintragungen zehn Jahre später verwundern.

Merken Sie, dass es da bei Ihnen einen Trend gibt?

Oft ist es das Reduzieren der Effekte. Such dir einen einzigen Höhepunkt im Satz aus, einen, nicht fünf. Das muss ich mir immer wieder sagen, das muss ich auch den Musikern immer wieder sagen.

Und war es jetzt auch als letztes Museumskonzert Ihrer Amtszeit feierlich?

Jedes Museumskonzert in den letzten 15 Jahren war ein Fest. Fünf Mal zwei Konzerte im Jahr, herrlich. Vier Fünftel unserer Arbeit, schätze ich mal, findet im Orchestergraben statt. Nicht weniger interessant, keineswegs, aber der Blick geht auf die Sänger, die Inszenierung und wir müssen auch aufpassen, den Gesang nicht zuzudecken. Die Möglichkeit, selbst auf der Bühne zu sein, gesehen zu werden, das bringt eine Extraportion an Spaß und Vehemenz und Expression.

Eine Ära geht zu Ende.

Na ja, ich bin jedenfalls voller Freude, voller Stolz, dass ich dieses Orchester 15 Jahre begleiten durfte. Wir haben viel erreicht, und die Aufnahmen bei Oehms-Klassik zeigen, dass zum Beispiel schon aufgefallen ist, was für ein sehr gutes Strauss-Orchester hier entstanden ist. Ich habe selbst in der gemeinsamen Arbeit so viel gelernt und hoffe, das gilt für das Orchester umgekehrt auch. Es gibt so interessante Gespräche zwischendurch mit den Musikern, oft auch gute Anregungen. Man muss es natürlich an sich heranlassen. Ich kann auch auf dem Standpunkt stehen: Ich bin der Maestro und sage an. Aber wir machen richtige Teamarbeit. Und das macht auch die Qualität dieses Orchesters aus.

Ginge es heute überhaupt noch anders?

Ich würde es niemandem empfehlen. Die Zeit des Pult-Maestro und Diktators ist ohnehin vorbei, wenn Sie das so machen, sind Sie ganz schnell weg. Und wer hat denn schon so viel zu sagen, dass er sich das herausnehmen sollte? Manche Kollegen haben enorm viel im Kopf, was sie vermitteln wollen. Aber ob sie deshalb vor einem Orchester auftrumpfen müssen, daran habe ich trotzdem meine Zweifel. Es ist auch gar nicht notwendig. Mit Angst kann man auch keine gute Musik entstehen lassen. Sie können genau so viel vermitteln mit einer sachlich verständlichen, weniger emotionalen Ansprache. Bei den Emotionen, um die es geht in der Musik, ist es ohnehin viel wesentlicher, sie zeigen zu können. Möglichst alles zeigen und nicht so viel reden.

Haben sich Orchester generell verändert in dieser langen Zeit?

Sie sind internationaler geworden, was eine sehr, sehr schöne Entwicklung ist. Und die Ansprüche an den einzelnen Musiker sind viel höher als vor 20, 30 Jahren. Allein die vielen CDs, die DVDs, alles, was man eben hören und sehen kann. Dazu ein Höher-Schneller-Weiter, sehr viele Wettbewerbe, kaum ist einer vorbei, steht der nächste schon an.

Inwiefern haben Sie sich verändert?

Für mich nicht leicht zu beurteilen. Vor 15 Jahren war mein Repertoire jedenfalls noch nicht so reichhaltig. Mit wachsendem Repertoire reift man auch selbst. Wenn ich immer mehr Strauss-Zeitgenossen kennenlerne, verändert das auch wieder meinen Blick auf Strauss. Das Spiel selbst ist aber immer das gleiche: Du möchtest eine Musik als Anwalt der Partitur auf ein sehr hohes Niveau heben und deine Idee dieser Musik dem Orchester und damit dann hoffentlich auch dem Publikum näherbringen. Jedes Mal von Neuem. Was sich verändert hat: Ich bekomme heute ganz schnell einen Überblick über die Partitur. Ich sehe sofort: Ah, das wird niemals funktionieren, das muss viel leiser sein. Da sitze ich schon mit dem Stift, ohne eine Note davon gehört zu haben. Und noch etwas hat sich verändert. Ich höre auch sinfonische Werke zunehmend als Opern.

Das bedeutet?

Dass für mich bei jedem Werk, nicht geplant, aber ganz von selbst, an irgendeiner Stelle eine Geschichte einsetzt. Ein Bild, eine Erinnerung, ein Erlebnis, Hoffnung, Verzweiflung, ein Tod. Ich erkläre es nicht weiter, aber ich will es zeigen. Mit meiner Mimik, meiner Körpersprache, und wenn es tanzend ist.

Kontrollieren Sie eigentlich, wie Sie sich bewegen? Lassen Sie sich dazu Rückmeldungen geben?

Nein, das mochte ich noch nie. Ich konnte das schon im Studium nicht leiden, dass man vor einem erblindenden Spiegel, in dem man sein Konterfei schon doppelt sah, seine Bewegungen überprüfen musste. Hinter mir der Professor, der meinen Arm führt. Also eine entspannte Situation ist das nicht, sollte es sicher auch nicht sein.

Durch das Orchester haben Sie ständig eine Art Publikum vor sich. Auch eine Kontrolle.

Die Interaktion ist auf jeden Fall unglaublich intensiv. Mit jedem einzelnen auf der Bühne habe ich im Laufe eines Konzerts mindestens einmal Augenkontakt. Nehmen Sie den ersten Satz der Neunten von Bruckner, wenn die ersten Geigen zusammenspielen, dann gucke ich nicht den Konzertmeister an, sondern ich wandere mit meinen Augen durch alle Reihen, und hole damit jeden mit ins Boot. Wenn Sie den Blick nur in der Partitur haben, ist das nichts. Um das zu merken, brauchen Sie übrigens keine Kamera.

Es war sehr gut, in der Schule ganz hinten zu sitzen, aber man kann sich im Orchester offenbar nicht verstecken.

Zur Person:

Sebastian Weigle, 1961 in Berlin geboren, war 15 Jahre lang erster Solohornist der Berliner Staatskapelle, bevor er sich in den 90er Jahren aufs Dirigieren konzentrierte. 1997 wurde er Erster Staatskapellmeister an seinem Berliner Stammhaus. 2004 übernahm er das Amt des Generalmusikdirektors des Gran Teatre del Liceu in Barcelona. Schon im Jahr zuvor hatte ihn die Fachzeitschrift „Opernwelt“ für seine Leitung der Richard-Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Dirigenten des Jahres gewählt – in einer Inszenierung an der Oper Frankfurt, die ihrerseits gleich nach der ersten Amtszeit von Bernd Loebe zum Opernhaus des Jahres gekürt wurde. Zur Spielzeit 2008/9 kam Weigle als GMD ans Haus, als Nachfolger von Paolo Carignani. Zur kommenden Spielzeit tritt nun Weigles Nachfolger Thomas Guggeis an.

An der MET in New York debütierte Weigle 2000 mit der „Zauberflöte“, bei den Bayreuther Festspielen 2007 mit einer Neuinszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“, in Covent Garden in London 2018 mit einer neuen „Hänsel und Gretel“-Produktion. Seit 2019 ist er außerdem Chefdirigent des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra Tokio.

„Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan hat am 2. Juli Premiere, Tobias Kratzer inszeniert, Andreas Bauer Kanabas, Ambur Braid, Iain MacNeil und Ian Koziara singen! www.oper-frankfurt.de

Überhaupt nicht. Und ich weiß, wie sich Leute im Orchester fühlen, die hinten sitzen, denn ich war ja Hornist. Da hast du einen Beobachtungsposten und denkst, du wirst selbst nicht gesehen. Aber der Dirigent sieht (fast) alles.

Gibt es in den 15 Jahren eine größte, schönste, wichtigste Produktion?

Wahrscheinlich doch der „Lear“…

Ihr Einstand 2008, mit Aribert Reimann – anspruchsvoll.

Ich war extrem gut vorbereitet. Es gibt 48 Solostreicher. Dann sagen zu können: die 16. Geige ist immer so minimal zu spät, das ist schon eine Herausforderung. Aber es gab viele Produktionen, die sehr wichtig für mich waren, „Die Königskinder“, der „Giovanni“, jetzt die „Elektra“. Der „Ring“ war eine große Sache, das ist immer eine Visitenkarte. Ich bin neulich darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich einer der wenigen außer Sawallisch bin, die alle 13 Bühnenwerke von Wagner dirigiert haben. Aber jede Premiere ist herausragend in dem Moment, auf den man jedes Mal so lange hinarbeitet.

Jetzt also eine Rarität, Rudi Stephans „Die ersten Menschen“, was erwartet uns da?

Der Stoff ist vertraut, Adam und Eva, Kain und Abel, Kain erschlägt Abel. Aber zum Beispiel der Inzest, dass im Grunde genommen alle männlichen Teilnehmer des Stücks etwas mit Eva hatten oder haben wollen, das ist schon ungewöhnlich auf der Bühne. Der Librettist, Otto Borngräber, war offenbar sehr empfindlich und verbat sich Stephan gegenüber Änderungen jeder Art. Und wir bringen das auch ziemlich eins zu eins. Es gab vor zwei Jahren in Amsterdam eine Aufführung mit Strichen, und da sind auch tatsächlich viele Wiederholungen. Aber sie haben etwas Manisches, mit dem man umgehen muss. Wenn Kain das „wilde wilde Weib“ finden will, das „süße wilde Weib“, das „wilde süße Weib“ und so weiter, dann demonstriert das, dass er von diesem Gedanken einfach nicht loskommt. Können Sie natürlich weglassen, hat er ja eben schon gesagt. Aber ich bin froh, dass wir es nicht tun, wenn wir schon 100 Jahre nach der Uraufführung – in Frankfurt übrigens – sein Werk erneut erklingen lassen.

Und die Musik?

Ist sehr nah an Schreker, Zemlinsky und vor allem Korngold. Diese drei würde ich nennen. Das ist großes Kino, ganz großes Kino, schöne Effekte. Es gibt eine Orgel, und wenn es um Engel geht, erklingen Celesta-Glockenspiel und Harfe. Ungewöhnlich: ein Saxofon, das das Instrument von Kain ist, der hier Kajin genannt wird. Das Orchester spielt eine elegische Melodie, und sobald Kajin auftritt, geht das Saxofon wie so ein Quergeist dazwischen, dissonant, überbordend, und dann gleich noch mal, falls es jemand beim ersten Mal überhört haben sollte. Die Musiker haben auch Spaß, würde ich sagen, wobei es auch unspielbare Stellen gibt. Da möchte ich keine Geige sein. Es ist tragisch, dass das ganze Oeuvre von Rudi Stephan verbrannt ist, sofern es eben nicht schon beim Verlag war. Und was er noch geschrieben hätte, welche Reife seine Werke noch erreicht hätten, wenn er nicht so früh gestorben wäre.

Mit 28 im Ersten Weltkrieg, und der Nachlass verbrannte 1945 nach einem Bombenangriff auf Worms.

Er hat eine Akkordverbindung in den Holzbläsern, exakt die gleiche, die auch in der „Musik für Orchester“ vorkommt. Vielleicht gibt es sie auch in den Kammermusikstücken? Ich habe große Lust, Rudi Stephan weiter zu entdecken.

Was werden Sie nach den 15 Jahren vermissen?

Alles vermutlich. Allein schon die Kontinuität. Mein Kalender ist voll, darüber kann ich mich nicht beklagen. Aber wenn ich jetzt nach Frankfurt zurückkomme, werde ich nicht mehr direkt ins Opernhaus gehen. Ich habe immer sofort weitergearbeitet und die Gastspiele wie Puzzlestücke dazwischen gelegt.

Und worauf freuen Sie sich am meisten?

Auf ein bisschen mehr Freizeit. Mag sein, dass ich dann auch sentimental und larmoyant und melancholisch werde, das wird nicht ausbleiben; wenn man diese Charaktereigenschaften nicht hätte, würde einem als Dirigent ein wichtiger Zweig der Interpretationskultur fehlen. Aber was ich mit Freizeit meine: Wenn ich ein Konzert in Kopenhagen mache, bin ich drei Tage da, probe, reise nach dem Konzert sofort ab, weil ich direkt wieder in Frankfurt eingeplant bin. Jetzt kann ich mal durch den Prater spazieren oder in einem Café sitzen, ohne ständig auf die Uhr zu schauen. So habe ich mein ganzes Leben verbracht und auch mit Freude und Genuss, aber jetzt soll es einmal anders sein. Das gilt auch für Japan, wo ich immer heftig am Arbeiten bin, um dann direkt zurückzufliegen. Das gilt sogar für Frankfurt. Mal in Ruhe in der Stadt unterwegs sein.

Ja, Sie bleiben vorerst in Frankfurt, obwohl Sie immer einen Draht nach Berlin behalten haben.

Genau, der Plan war immer, nach Berlin zurückzugehen, aber Stadt und Menschen hier sind mir doch sehr ans Herz gewachsen. Wir werden sehen, wie es sich weiterentwickelt.

In der nächsten Spielzeit tauchen Sie leider erstmal nicht hier auf, aber später schon, oder?

Nach einer Stabübergabe muss das so sein, man muss dem neuen Kollegen, der neuen Kollegin Raum geben. Wenn man im zweiten oder dritten Jahr wieder zusammenkommt, freue ich mich. Der Wunsch ist auf beiden Seiten da.

Sie könnten auch gut einspringen, wenn Sie zu Hause sind.

Ja, das haben mir Leute auch schon gesagt. Ich werde mein Handy nach 14 Uhr tunlichst ausstellen.

Aber Sie würden es tun, wenn man Sie aufstöberte.

Ich würde immer einspringen, um eine Vorstellung zu retten, dazu ist man moralisch praktisch verpflichtet.

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