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"Charlotte Salomon": Eine traurige Frau rettet sich ins Singspiel

Eine fantasiebegabte junge Frau hat allen Grund zum Trübsinn. In ihrer Verzweiflung ist sie dem Tod näher als dem Leben. Doch sie bahnt sich aus eigener Kraft einen Ausweg.

"Charlotte Salomon": Eine traurige Frau rettet sich ins Singspiel
"Charlotte Salomon": Eine traurige Frau rettet sich ins Singspiel
Charlotte Salomon ist wie verschleiert. Von dieser jungen Berlinerin gibt es kein Foto, kein Tagebuch, keine Dokumente, anhand derer sich ihr Leben in einer üblichen Biografie einfach nacherzählen ließe. "Sie ist enigmatisch und verschlossen", sagt der Regisseur Luc Bondy, der die Oper "Charlotte Salomon" in Salzburg inszeniert.

Wie ist es ihm bei der ersten Begegnung mit seiner Titelheldin ergangen? "Ich bin zwei Wochen gesessen und habe nichts verstanden." Er habe sich gefühlt wie in einem fernen, fremden Land, von dem man nicht wisse, welche Speisen gegessen, welche Sprachen gesprochen würden. Weder Grammatik noch Orthografie habe er verstanden.

Dieser fremde Kosmos enthüllt sich in einer wundersamen Ausdrucksweise und in einer ungewöhnlichen Hinterlassenschaft: Charlotte Salomon hat Hunderte Gouachen gemalt, geordnet, nummeriert und mit dem Titelblatt "Leben? oder Theater?" versehen. Verwahrt hat sie jener Arzt, der ihr Anfang der 1940er-Jahre empfohlen hatte, ihre existenzielle Krise malend zu bekämpfen.

Nun ist das riesige Konvolut von Gouachen im Jüdischen Museum in Amsterdam. 1963 erschien der erste Bildband, dem folgte 1981 ein zweiter. 2012 wurden einige Gouachen auf der documenta 13 in Kassel ausgestellt. Das Jüdische Museum in Amsterdam und die Charlotte Salomon Foundation haben es erlaubt, einige dieser Gouachen in der Festspielbeilage der Salzburger Nachrichten zu reproduzieren.

Sich malerisch auszudrücken hatte Charlotte Salomon ab 1935 an der Kunstuniversität Berlin (damals die "Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst") erlernt. Ihr dortiges Studium brach sie wegen antisemitischer Anfeindungen ab.

Dass diese junge, offenbar talentierte, fantasiebegabte, humorvolle Frau wenige Jahre später psychisch schwer zu leiden hatte, verwundert nicht: Jahrelang angefeindet und schließlich vertrieben aus ihrer Heimatstadt, emigriert sie 1939 in die Nähe von Nizza zu ihren Großeltern, die 1934 dorthin geflohen waren. Die Großmutter nimmt sich das Leben. Charlotte Salomon und ihr Großvater werden verhaftet und im Lager Gurs interniert - jenem Lager für "Unerwünschte" und politische Flüchtlinge, in dem auch Luc Bondys Vater, Hannah Arendt, Jean Améry und Ernst und Eva Busch inhaftiert waren. Charlotte Salomon und ihr Großvater kommen wegen dessen hohen Alters aus Gurs wieder frei. Sie beginnt zu malen. 1943 wird sie verraten, in Nizza verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 26 Jahre ist sie alt geworden.Salomon transformiert ihre Geschichte in GemäldenIn "Leben? oder Theater?", entstanden von 1940 bis 1942, transformiert sie ihre Geschichte - Leben, Lieben, Familie - in eine Reihe von Gemälden. Diese versieht sie mit Texten und nennt alles "Singspiel".

Wie Texte und Bilder zueinanderkommen, schildert sie selbst auf dem fünften Blatt in großen, bildhaft gemalten Lettern: "Die Entstehung der vorliegenden Blätter ist sich folgendermaßen vorzustellen: Der Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, bemerkt er, dass die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, passt. Ein Text formt sich bei ihm, und nun beginnt er die Melodie mit dem von ihm gebildeten Text zu unzähligen Malen mit lauter Stimme so lange zu singen, bis das Blatt fertig scheint. Oftmals werden mehrere Texte gebildet, und es entsteht ein Doppelgesang, oder es ..."

"Leben? oder Theater?" ist ein in Bildern notiertes Theaterstück in Akten und Szenen, inspiriert von Musik - ideal also, um daraus etwas zu formen, worin Musik, Text, Bild und Szene verschmelzen: eine Oper. Der Intendant der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, hat damit den Franzosen Marc-André Dalbavie beauftragt.

Dies ist nach "Gesualdo" - 2010 komponiert für die Zürcher Oper - dessen zweites abendfüllendes Werk. Marc-André Dalbavie komme aus der Tradition der Spektralisten, wie Gérard Grisey und Tristan Murail, erläutert der Dramaturg Konrad Kuhn. Im Gegensatz zur seriellen Musik in Deutschland hätten sich die französischen Spektralisten auf die Erforschung des Einzeltons und des Klangspektrums konzentriert.Salomon sei in "einer Art von Todesdrang" gewesenDass Marc-André Dalbavie in seine bisherigen Kompositionen immer wieder die Tradition der abendländischen Musik hat einfließen lassen, fügt sich zum Konzept für die neue Oper: Was Charlotte Salomon in Bildern und Texten an Musik erwähnt hat, flicht er wie Zitate in seine Musik - damalige Schlager, ein Lied der Comedian Harmonists, die Habanera aus "Carmen", Bach-Kantaten, Schubert-Lieder sowie das "Wir winden Dir den Jungfernkranz" aus dem "Freischütz".

Dieses Brautlied zitiere Charlotte Salomon, als sie vom Selbstmord ihrer Mutter erzähle, erläutert Konrad Kuhn. Und diese Selbstmorde von Mutter und Großmutter dürften für die gut 20-Jährige wie ein Fatum gewesen sein: Ist sie als Nächste an der Reihe? Aus diesem scheinbaren Gesetz der Selbstmordserie hat sie sich mittels der Malerei gelöst.

Charlotte Salomon sei in "einer Art von Todesdrang" gewesen, konstatiert Luc Bondy. Mit der Malerei habe sie das gefunden, womit sie leben könne: eine Art, sich auszudrücken. "Sie entscheidet sich für das Leben. Paradoxerweise kommt sie dann um."

Und doch führt "Leben? oder Theater?" nicht nur an die Schwelle zum Tod, dieses Singspiel ist nicht nur traurig und melancholisch, sondern oft lustig bis sarkastisch. "Sie hat ungeheuren Witz, eine richtige Berliner Schnauze", sagt Konrad Kuhn. Doppelfigur - wirkliche Charlotte Salomon und erfundene Charlotte KannZu einem umschlungenen Liebespaar schreibt sie etwa dazu: "Donner und Blitz haben bisher immer am besten die Welt gereinigt." Eine andere Liebesszene kommentiert sie so: "Doch plötzlich werden seine zartempfindenden Nerven von einem feuerähnlichen Strom berührt ... was zu verstehen ist - wenn man bedenkt, daß dieses Blatt entstand unter der Melodie: ,Wie ich dich liebe - so hat noch nie - noch nie ein Mensch geliebt.‘"

Ihr Humor zeigt sich auch an den Namen, die sie den Menschen aus dem wirklichen Leben in ihrem Singspiel gibt: Die Großeltern heißen hier Herr und Frau Dr. Knarre, es gibt den Dirigenten Klingklang, die Sängerin Paulinka Bimbam und den Doktor Singsang. Sie selbst nennt sich in dieser fiktionalisierten Autobiografie Charlotte Kann.

Diese Doppelfigur - die wirkliche Charlotte Salomon und die von dieser erfundene Charlotte Kann - wird auch in der Oper wiedergegeben: Charlotte Salomon ist eine Sprechrolle, großteils in Deutsch, gespielt von Johanna Wokalek. Diese Charlotte erinnert sich zum Beispiel zurück an ihre Berliner Jugend. Sie ist Zeitzeugin der Machtergreifung der Nationalsozialisten wie des Berufsverbots für Juden.

Dieses Erinnern erfolge oft blitzartig, schildert Johanna Wokalek. Bei jedem Erinnern vermischten sich oft vergangene Eindrücke mit anderen, neuen Gedanken. Daher sei weder ihre Rolle noch die Oper dokumentarisch.Charlotte Kann wird gesungen, meist in Französisch Die Figur der Charlotte Kann hingegen wird gesungen, meist in Französisch. In dieser deutsch-französischen Doppelsprachigkeit der Oper wird deutlich, dass Charlotte Salomon selbst in diesen beiden Sprachen gelebt hat. Und im Double der beiden Charlotten wird sichtbar, wie die reale Charlotte als Autorin aus ihrem Leben gleichsam heraustritt, es betrachtet, als hielte sie sich einen Spiegel vor, es aber zugleich überdenkt, verzerrt, interpretiert - oder, wie Luc Bondy es umschreibt: "Sie hat eine theatralische Übersetzung gemacht."

Diese zweite Titelpartie der Uraufführung als Charlotte Kann übernimmt Marianne Crebassa, die in Montpellier Gesang, Klavier und Musikwissenschaft studiert hat und seit 2008 an der dortigen Oper regelmäßig auftritt. 2012 gab sie ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen als Irene in konzertanten Aufführungen von Georg Friedrich Händels "Tamerlano" unter Marc Minkowski. Unter dessen Leitung war sie 2013 als Cecilio in "Lucio Silla" bei der Salzburger Mozartwoche und bei den Salzburger Festspielen.

Die Musik von "Charlotte Salomon" fordere eine große Bandbreite ihrer Stimme - von Sprechgesang, der sich an das Sprechen Johanna Wokaleks anfüge, bis zu großen lyrischen Ausbrüchen, erläutert Marianne Crebassa. Zu Beginn der Oper, wenn sie als neunjähriges Mädchen auftritt, habe sie - laut Partitur - sogar halblaut vor sich hin zu singen (französisch: "chantonner"), was in der großen Felsenreitschule schwierig sei.Wie sieht Luc Bondy das Libretto?Für das Libretto hat sich die deutsche Schriftstellerin Barbara Honigmann, selbst Tochter deutsch-jüdischer Emigranten, an die Texte Charlotte Salomons gehalten. Jedenfalls sind alle gesungenen Texte aus "Leben? oder Theater?" zitiert. Dem Dramaturgen Konrad Kuhn zufolge nimmt Barbara Honigmann ausgehend vom fiktiven Nachnamen Kann auch Bezug auf Immanuel Kant und dessen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Wie sieht Luc Bondy das Libretto? "Es ist sprunghaft", sagt der Regisseur. Es sei keine durchgehende chronologische Erzählung, sondern es bestehe aus vielen Momentaufnahmen, sodass Möglichkeiten und Assoziationen evoziert würden.

Für Luc Bondy, der derzeit das Odéon in Paris leitet und nun erstmals seit 1996 wieder in Salzburg inszeniert, bringt diese Uraufführung zwei Neuigkeiten: Erstens hat er noch nie zuvor in der Felsenreitschule Regie geführt. Seine legendäre "Salome" und "Le nozze di Figaro" wurden im damaligen Kleinen Festspielhaus gespielt, "Das Gleichgewicht" von Botho Strauss war im Landestheater. Zweitens hat er noch nie zuvor mit videoähnlichen Projektionen gearbeitet. Bühnenbildner Johannes Schütz wird ausgewählte Gouachen in die Felsenreitschule projizieren - "als Imagination" für das, was Charlotte Salomon gedacht hat, wie Luc Bondy erläutert.Gouachen zwischen "toller Malerei und Comicstrip" Was liest er aus dieser Serie von Gouachen, die in dieses autobiografisch geprägte und zugleich sonderbar ferne Land der Fantasie Charlotte Salomons führen? "Man merkt ihre Redseligkeit", sagt Luc Bondy. Die Gouachen seien irgendwo zwischen "toller Malerei und Comicstrip". Vermutlich hätte Charlotte Salomon eine spannende Malerin werden können, allerdings wäre da noch vieles zu entwickeln gewesen.

Manche Bilder hätten eine burleske Stimmung, manche erinnerten ihn an den frühen Marc Chagall, andere an den Zeichner Edward Gorey, sagt Luc Bondy. Einige Gouachen seien expressiv, manche wirkten naiv, andere seien fast schon Nonsens. Viele seien "weder real noch abstrakt", sondern "irgendwo dazwischen".

Bei aller Disparität gibt es ein Kontinuum: "Sie sind erzählerisch"; die Bilder seien von den dazugefügten Texten nicht zu trennen. Und sie seien wie eine Apokalypse aufgebaut: "Sie werden immer extremer." Insgesamt stellt Luc Bondy fest: "Ich merke, dass sie viel Leben haben."

Oper: Marc-André Dalbavie,
Charlotte Salomon.
In memoriam Gerard Mortier.
Libretto von Barbara Honigmann nach "Leben? oder Theater?" von Charlotte Salomon, Übertragung ins Französische von Johannes Honigmann, Uraufführung.Dirigent: Marc-André Dalbavie, Regie: Luc Bondy,
Premiere:
28. Juli, Felsenreitschule.


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