Ästhetisches Gesamtkunstwerk in glanzvoller Besetzung: „Tannhäuser“ an der Bayerischen Staatsoper München

Bayerische Staatsoper/Tannhäuser 2024/C.Gerhaher, V.Miknevičiūtė, K.F.Vogt/ Foto © Wilfried Hösl

Sieben Jahre nach der Premiere und einer szenischen Neufassung zu den Salzburger Osterfestspielen kehrt Romeo Castelluccis bildgewaltige wie rätselhafte Inszenierung von Richard Wagners Tannhäuser zurück auf die Bühne der Bayerischen Staatsoper München. (Rezensierte Vorstellung, 5. Mai 2024)

 

 

 

Opernregie mit ganz eigener Ästhetik

Romeo Castellucci gilt nicht als klassischer geschichtenerzählender Regisseur, sondern vielmehr als ein vielseitiger Künstler, der ein Musikdrama aus einer interdisziplinären Perspektive dekonstruiert und neu entwickelt. So ist in seinem Tannhäuser an der Bayerischen Staatsoper stets die ihm eigene Ästhetik bestimmend, welche die Opernhandlung nicht einfach szenisch auf die Bühne bringt, sondern eine wahre Inszenierung, beinahe eine Kunstinstallation schafft. Diese hat den Anspruch, Handlung mit Musik zu verschmelzen. So schießen schon zur Ouvertüre Amazonen im Takt mit Pfeil und Bogen auf Tannhäusers an die Leinwand projiziertes Aug und Ohr. Dies ist nicht nur bildgewaltig und ästhetisch beeindruckend, sondern zeigt sogleich das Kernproblem Tannhäusers auf: Er ist ein Gejagter, gejagt von der verlockenden Sinnlichkeit, der damit streitenden geistigen Liebe, und zugleich ein Jagender, denn er ist es, der im Widerstreit mit sich selbst auf der Suche nach dem für ihn richtigen Lebensweg ist. Dass er es selbst ist, der sich zum Gejagten macht, zeigt sich im gesamten Stück, überdeutlich wird es mittels seiner aus zwei Bögen bestehenden Harfe inszeniert.

Erster Aufzug: Ein Venusberg mit Falten

Bayerische Staatsoper/Tannhäuser 2024/Okka v.d. Damerau, K.F. Vogt/Foto © Wilfried Hösl

Castellucci arbeitet mit klaren Bildern, ohne der Kargheit zu verfallen, und widmet sich minutiös der assoziativen Darstellung von Ideen, Urmotiven und Symbolen, die sich, obgleich sie sich nicht zur Gänze erschließen, immer einen Rest Geheimnis bergend, sich dennoch mit gewissem Sinn äußern. Dabei schafft er ein Zusammenspiel aus einer Reduktion auf das Wesentliche und einer Übertreibung eben dieser reduzierten Essenz. So hat der Venusberg – auf den Bühnen kaum mehr als Grotte mit badenden Nymphen und einer klassisch schönen Venus, die ihren Hofstaat an Geliebten um sich versammelt, zu sehen – jede Sinnlichkeit längst hinter sich gelassen und symbolisiert nun die reine Fleischlichkeit: Venus thront in einem wogenden Berg an Schlachtabfällen gleichenden Formen, in denen sich zu einer Einheit verschmolzene Körper räkeln. So ist es auch nachvollziehbar, wenn Tannhäuser, der noch nicht symbiotisch im Einheitsfleisch der Lust gefangen ist, der Göttin Reich fliehen möchte. Anklänge an klassische Motive und Venus-Darstellungen finden sich dennoch: Im Hintergrund setzt sich der Tanz der Amazonen fort, die in stetigem Fluss Standbilder mit klassisch-römischen Elementen bieten, sodass auch Venus sich wieder vom Hörselberg zurück „Nach Rom!“ sehnen kann. 

Zweiter Aufzug: Minnesang als Ritual

Auch die „teu’re Halle“ überzeugt in ihrer von übergroßen weißen, tanzenden Vorhängen geprägten Ästhetik, die Bewegung in den sonst eher statisch gestalteten Sängerwettstreit bringen. Dieser selbst gleicht mehr einer religiös-esoterischen Zeremonie, verstärkt durch die priesterlichen Gewänder der Sänger und dem altarähnlichen Block, der zuerst wie das Heiligtum der zu besingenden Liebe anmutet, immer mehr aber mit Schmach befleckt wird, bis schließlich die Sünde (ob sie tatsächlich eine ist, sei dahingestellt) in Form einer schwarzen Schattenfigur aus ihm ausbricht, die sich bei seinem erneuten Loblied an Venus an Tannhäuser klammert. Elisabeth, von Tannhäuser zutiefst verletzt und dennoch für ihn um Gnade bittend, verdeutlicht auch, wie sehr er Gejagter seiner selbst ist, indem sie den von Wolfram angesetzten Pfeil auffängt und diesen Tannhäuser in den Rücken rammt, ohne dabei den Eindruck eines Gewaltaktes zu erwecken. Vielmehr verdeutlicht sie sein Schicksal, das er selbst sich zugefügt hat.

Dritter Aufzug: Wagners Musikdrama als allgegenwärtige Instanz

Im dritten Aufzug vollzieht sich ein gewisser Bruch, die Zeit bleibt zwar nicht stehen, sondern wird aufgehoben und überstiegen, symbolisiert mit bis ins Unermessliche steigenden, vergehenden Zeitspannen, die auf der dunklen Rückwand eingeblendet werden. Die Zeit spielt schlichtweg keine Rolle mehr; denn nun geht es um die Ewigkeit. Die Figuren, die Handlung, somit die gesamte Dimension des Bühnenstücks, übersteigen sich selbst, ohne gänzlich zurückgelassen zu werden. So öffnet sich ein zeitloser Raum für die Gesamtheit aller Existenz, der die Fiktion ebenso betrifft wie die Realität und sämtliche Trennungen zwischen den Dimensionen aufhebt. Elisabeth und Tannhäuser, oder auch die Sänger selbst, denn ihre Namen zieren die die toten Körper aufbahrenden Steinblöcke, verwesen Schritt für Schritt, währenddessen treten jedoch die Sänger (nun in üblicher Konzertkleidung) auf und führen die Handlung, die in nicht weniger als der Ewigkeit endet, fort. Am Ende steht die Vereinigung: Die zu Staub gewordenen Körper werden vereint, Tannhäuser und Elisabeth, so verschieden sie in ihrem Leben auch waren, sind nun gleich, beide nur mehr Asche, und können (un)endlich in der Ewigkeit zusammen sein. Es entsteht ein Gesamtbild, dessen Sinn deutlich zu spüren, aber nur anfanghaft zu erfassen ist, der das Weltliche, gar Naturwissenschaftliche, mit theologischen Vorstellungen von Tod, Erlösung und Ewigkeit zu vereinen weiß. Selten wird All-Versöhnung so geistreich, aber dennoch mit gewisser Offenheit und Uneindeutigkeit vorstellbar gemacht.

Szenisches Gesamtkunstwerk im Sinne Richard Wagners ganz neu gedacht

Bayerische Staatsoper/Tannhäuser 2024/Foto © Wilfried Hösl

Castelluccis Größe beweist sich in seinem reflektierten und das Ganze beachtenden Umgang mit dem Raum und kommt damit einer Vorstellung eines Gesamtkunstwerks sehr nahe. So nützt er die architektonischen Gegebenheiten der Bayerischen Staatsoper und lässt am Ende des zweiten Aufzugs, wie als Vorahnung auf die letztlich nicht durch Rom, sondern durch die Fürbitte der in den Himmel aufgenommenen Elisabeth zuteilwerdende Erlösung Tannhäusers, eine der vier Engelsstatuen über der Bühne beleuchten. Damit werden die Dimensionen und die oft zu starke Trennung zwischen Bühne und Publikum, zwischen Stück und Realität ganz im Sinne neuerer performativitätstheoretischer Perspektiven aufgebrochen. Besonders stark geschieht dies im dritten Aufzug, wenn auf den steinernen Sarkophagen nicht die Namen der Figuren, sondern jene der Sänger aufscheinen, und damit der Gedanke aufkommen kann, dass das, was sich hier vollzieht, uns alle angeht und sich nicht in einer schön-tragischen Geschichte auf der Bühne erschöpft, sondern unmittelbar in unsere Lebenswelt hineinreicht, sogar ursprünglich aus dieser stammt.

Teil des Gesamtkunstwerkes sind ebenso zahlreiche vermeintliche Kleinigkeiten, beiläufige Symbole, die die Handlung begleiten und nur bis zu einem gewissen Grad direkt darstellen, sodass es der Assoziationskraft des Publikums überlassen ist, wie viel es darin sehen möchte. So schwebt bei Tannhäusers erstem Wiedersehen mit Elisabeth eine dunkle Frauenfigur, der Schatten ihres auf ihrem Kleid abgedruckten Körpers, nach oben – auch dies bereits eine Vorahnung der bald segnend über Tannhäuser schwebenden Elisabeth im Himmel. An anderen Stellen wird jedoch auch die Gefahr dieses intensiven Einsatzes von enigmatischen, die Handlung in assoziativem Sinn ausdeutenden Elementen sichtbar: Entfernen sie sich zu weit von der unmittelbar zumindest einen gewissen Grad an Verständlichkeit einleuchtenden Symbolkraft, lässt sich zwar noch erkennen, dass hier alles durchdacht und mit Sinn versehen ist, der Sinn selbst erschließt sich jedoch nicht. Dies verlangt vom Publikum, den Selbstanspruch, alles auf der Bühne in höchster Ästhetik Sichtbare auch rational begreifen zu können, aufzugeben. In diesen Moment bleibt jedoch immer – und dies ist Castelluccis Stärke – eine einnehmende ästhetisch-kunstvolle Bildgewalt, auf die man sich emotional und mit den Sinnen auch ohne ein alles erschließendes Verstehen einlassen kann.

Mangelnde Personenregie bleibt eine Schwäche des Regisseurs

Was in diesem ästhetischen Gesamtkunstwerk von Castellucci jedoch zu kurz kommt, sind die Personen und ihre Beziehungen untereinander, was schade ist bei einer Oper, die doch im Wesentlichen von den komplexen und schwierigen Beziehungen der Figuren handelt – von den Beziehungen untereinander, aber auch, besonders bei Tannhäuser und Elisabeth, von der Beziehung zu Gott (oder der Göttin), zu sich selbst und von dem schwierigen Weg zur Grundentscheidung der eigenen Existenz. Bei Castellucci wird dies wenig sichtbar und durch die teilweise mangelnde szenische Darstellungskraft der Sänger, vor allem Klaus Florian Vogts, verstärkt. Die Figuren wirken wie Teile der künstlerischen Installationen und interagieren kaum. Dies führt im dritten Aufzug zu einer vorherrschenden Kühle und einer das Menschliche fast ausblendenden personalen Unterkomplexität. Vor allem Elisabeth bleibt dadurch seltsam kontur- und emotionslos, obwohl doch gerade sie mit ihren Emotionen ringt, diese einerseits fühlen, andererseits ablegen möchte, um sich der Reinheit ihres Geistes und Glaubens ganz hinzugeben. In Letzterem findet sich das, was Elisabeth, sowohl die Tannhäuser’sche als auch die echte Heilige, ausmacht. In Castelluccis Inszenierung fällt es schwer, ihr dies abzukaufen. Wie kann man glauben, dass sie an Gottes Thron für Tannhäuser fleht, wenn sie vor aller Augen zum Staub zurückkehrt und gleichzeitig die ihr Gestalt und Stimme verleihende Sängerin lebendig vor ihrem Grabstein sitzt? Vielleicht ist es notwendig, sich von der Handlung und den dahinterstehenden Lebens- und Glaubensvorstellungen zu lösen und nicht zu sehr bei der eigentlich hier stattfindenden Erlösungsdynamik und -hoffnung zu verweilen. Doch bleibt hier die Frage, ob dies bei einer Oper wie „Tannhäuser“ bei aller Kreativität nicht zu einer Verdrängung des Wesentlichen führt.

Es wird jedoch klar, dass Castellucci mit seinem „Tannhäuser“ auf andere Schwerpunkte setzt, und dies gelingt ihm mit klarer und doch nicht alles enthüllender Bildkraft, die das Werk deutet, einzelne Elemente in ihm hervorhebt, dieses aber auch übersteigt und so zum eigenständigen, symbiotischen Kunstwerk wird.

Zwei aufregende Rollendebüts und gefestigte sängerische Darbietungen

Bayerische Staatsoper/Tannhäuser 2024/K.F. Vogt, V. Miknevičiūtė/ Foto © Wilfried Hösl

Als Klaus Florian Vogt vor sieben Jahren in der Premiere dieser Inszenierung sein Rollendebüt in der Partie des Tannhäusers gab, war die Skepsis groß, ob dieser leuchtend-helle unvergängliche Lohengrin dieser Facherweiterung gerecht werden kann. Inzwischen debütierte Vogt gar mit großem Erfolg als Siegfried und Tristan. Er hat seinen verdienten Platz an der Spitze der Wagner-Heldentenöre eingenommen und ist von dort heute nicht mehr wegzudenken. Vogt prägte auch in dieser Wiederaufnahme den Tannhäuser durch seine gewohnt ruhige, klangschöne Tenorstimme, welche er jedoch im ersten Aufzug –  das baritonale Timbre der Partie missend – zunächst noch etwas zurückhaltend einsetzte. Im weiteren Verlauf der Aufführung wusste sich Vogt zu steigern und fand besonders im Finale zur Romerzählung mit ergreifender Gestaltung und intensiver, dramatischer Phrasierung und Deklamation zu neuer darstellerischer Größe.

Jede Phrase ist ein kleines Kunstwerk: Als Ausnahmekünstler gestaltete Christian Gerhaher die Partie des Wolframs in seiner ganz eigenen Liga. Er fand im Sängerwettstreit des zweiten Aufzugs zu einer Wahrhaftigkeit, die jede Silbe seines Vortrags durch idealtypische Klangfarbe, Phrasierung und Artikulation als persönliche Seelenempfindung glaubhaft werden ließ. Ain Anger glänzte als Landgraf Hermann mit sanft-tragender, klangfarbenreicher Bass-Stimme.

Für ihr lang antizipiertes Rollendebüt als Venus kehrte das ehemalige Ensemblemitglied Okka von der Damerau zurück an die Bayerische Staatsoper. Mit ihrer raumergreifend voluminösen und über sämtliche Register klar klingenden Mezzo-Sopranstimme machte sie sich die Partie auch dank vorbildlicher Diktion ganz zu eigen. Ein halbes Rollendebüt feierte in dieser Aufführung auch Vida Miknevičiūtė als Elisabeth. Die Sopranistin verkörperte ihre Partie zuvor lediglich einmal – vor knapp sieben Jahren noch vor ihrem internationalen Durchbruch – und konnte trotz einer angesagten Erkältung gesanglich überzeugen. Mit einem leichtem, doch markanten Vibrato zeichnete sie mit angemessener Feinfühligkeit eine schwache und verletzbare Elisabeth.

Orchestrale Gegensätze mit Höchstspannung im dritten Aufzug

Nicht erst seit seinem Abschied im vergangenen Jahr als Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt ist Sebastian Weigle an den bedeutendsten Opernhäusern der Welt für die musikalische Leitung der großen Werke Richard Wagners gefragt. Den Tannhäuser dirigierte er erst kürzlich an der Staatsoper Berlin sowie am Royal Opera House in London. Während Weigle im ersten Aufzug zunächst noch etwas unentschlossen, stellenweise gar spannungslos hinsichtlich seiner Tempi-Wahl und Koordination mit dem Bayerischen Staatsopernorchester wirkte, steigerte er sich im weiteren Verlauf der Aufführung zu höchster Intensität.

Im überwältigenden dritten Aufzug zeichnete Weigle die Konturen in einem scharfen Kontrast zwischen kammermusikalischer Zärtlichkeit eines düster koloriertem Streicherklangs zu den stolzen Blechbläserstößen des Pilgerchors. Gekonnt steigerte er Chor, Orchester und Solisten in das fulminant stattliche, das Publikum überwältigende Finale des Tannhäusers. Eine besonders starke Leistung bot zudem der Bayerische Staatsopernchor. Nicht nur das außerordentlich große Klangvolumen, auch die Differenziertheit des Charakters der einzelnen Chorszenen, wusste der Chor eindrucksvoll herauszuarbeiten.

Alles in Allem lässt einen dieser Abend nicht mehr los. Die eindrucksvollen Bilder des Regisseurs schwirren noch nach Tagen durch den Kopf und regen zum Nachdenken an.

 

  • Rezension von  Elena Deinhammer und Phillip Richter /Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Bayerische Staatsoper / Stückeseite
  • Titelfoto: Bayerische Staatsoper/Tannhäuser 2024/Foto © Wilfried Hösl
Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert