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WIESBADEN/ Maifestspiele: TURANDOT. Netrebko lässt das Eis schmelzen

09.05.2024 | Oper international

Netrebko lässt das Eis schmelzen – Turandot bei den Internationalen Maifestspielen am 8.5.2024

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Foto: Monika und Karl Forster

Im Rahmen der Internationalen Maifestspiele Wiesbaden war das Gastspiel von Anna Netrebko und ihrem Gatten Yusif Eyvazov in Giacomo Puccinis „Turandot“ am Staatstheater Wiesbaden ein mit höchster Spannung erwartetes Ereignis. Doch schon im Vorfeld entbrannte eine hitzige Debatte über das erneute Engagement der renommierten Sopranistin und wiederum organisierten sich Demonstrationen am ersten Aufführungsabend am vergangenen Samstag. Ihre politischen Ansichten und insbesondere ihre Haltung zum Ukraine-Krieg führten zu Kontroversen, die in Deutschland, das sich zu oft in einem kollektiven Pseudo-Moralismus gefällt und spätestens seit der unseligen Covid-Zeit seinen moralischen Kompass völlig verloren hat, besonders stark ausfielen. Obwohl Netrebko sich vom Ukraine-Krieg distanzierte, diente sie weiterhin als Projektionsfläche für pervertierte Demokratievorstellungen oder kleingeistige Provinzialität der Hessischen Landesregierung, die Netrebko als „unerwünscht“ erklärte. Hier zeigte sich einmal mehr, dass das hiesige Demokratieverständnis sich deutlich in autokratische Überzeugungen entwickelt, was dann paradoxerweise mit der Losung „Demokratie schützen“ belegt wird. Ein politischer und gesellschaftlicher Irrweg, der auch die Welt der Musik infiltriert hat. Die Kunst stand und steht dabei nicht im Mittelpunkt dieser Diskussion. Aus diesem irrationalen Verhalten ergibt sich eher die Frage, ob künstlerische Beiträge vorab „freigesprochen“ werden müssen, um akzeptabel für die gesellschaftliche Freigabe zu sein. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, sodass der internationale Opernbetrieb (Salzburg, Verona, Wien und die Mailänder Scala) Anna Netrebko wieder in seine Arme schließen konnte, wenn auch nicht überall.

Nun also die zweite Aufführung am 08. Mai, ohne Demonstrationen und auch ohne Yusif Eyvazov. Die Inszenierung von Regisseurin Daniela Kerck präsentierte eine fesselnde Interpretation von Puccinis „Turandot“, die über politische Kontroversen hinausging und das Publikum begeisterte. Inzwischen sind auch die Folgevorstellungen im Juni ausverkauft. Eine schöne Bestätigung dieser überaus gelungenen Produktion. Diese Aufführung illustrierte eindrucksvoll eine überraschende Variante des unvollendeten Werkes, das seit jeher Diskussionen über die passende Endfassung auslöste. Giacomo Puccini beauftragte seinen Schüler Franco Alfano damit, das Werk zu vervollständigen, doch keine der posthum gelieferten Versionen des letzten Bildes scheint wirklich optimal zu passen. Die Diskussion um die authentische Interpretation von „Turandot“ dauert bis heute an, und verschiedene Komponisten, darunter auch Luciano Berio, haben ihre eigenen Versionen beigetragen, ohne dem Werk zu schlüssigerer Wirkung zu verhelfen. „Turandot“ steht im Kontrast zu Puccinis früheren Werken als gefeierter Meister des Verismo. Puccini entschied sich bewusst für die Form eines Märchens, um wieder ein abendfüllendes Bühnenwerk zu schaffen. Turandot, die eiskalte Prinzessin, stellt potenziellen Werbern scheinbar unlösbare Rätsel, um sich vor Bindungen zu schützen. Erst die Opferbereitschaft von Calafs Sklavin Liù offenbart ihr das Wesen der Liebe. Die Inszenierung von Daniela Kerck präsentiert „Turandot“ ausschließlich im Original, und anstelle eines nach komponierten Schlusses erklingt das Introitus der Totenmesse aus Puccinis Requiem von 1905. Diese ungewöhnliche Wahl fügt sich erstaunlich nahtlos in die Aufführung ein und unterstreicht die künstlerische Vision der Regisseurin. Kerck schafft mit ihrer Inszenierung mehrere Spielebenen und nutzt effektvolle Videoprojektionen, um nahtlose Übergänge zwischen den Welten zu schaffen. Verarbeitet wird u.a. Puccinis zerrüttete Ehe und seine Beziehung zu seiner Dienerin Doria Manfredi, die Selbstmord vollzog. Somit agieren die drei Hauptrollen der Oper zugleich auch als Puccini, dessen Frau und eben Doria Manfredi. Der Wechsel zwischen den Charakteren und den verschiedenen Spielebenen gelingt vorzüglich. Die Bühne wird mit chinesischer Ornamentik und suggestiven Elementen wie Blätterregen, Feuersäulen und Schneegestöber zum Leben erweckt. Wasser in eindrucksvollen Meeresprojektionen spielt eine besondere visuelle Rolle. In dieser Inszenierung steht Turandot nicht wirklich im Mittelpunkt, während Calaf als selbstverliebter Egomane dargestellt wird. Die eigentliche Heldin ist Liù, deren Opferbereitschaft und unerwiderte Liebe das emotionale Zentrum der Aufführung bilden. Die Szene ihres Selbstmordes, begleitet vom anschließenden Requiem, berührt und offenbart die tragische Dimension der Geschichte. Das Engagement von Anna Netrebko als Turandot war zweifellos das Herzstück der Aufführung. Trotz der hitzigen Diskussionen um ihre politischen Ansichten bewies Netrebko erneut ihre überragende, beeindruckende Bühnenpräsenz und ihre einzigartige stimmliche Brillanz. Anna Netrebko bildete das Zentrum, auch wenn dies von der Regie anders gemeint war. Die Künstlerin besitzt ein starkes Charisma und einen untrüglichen Bühneninstinkt. Jede Geste, jede Bewegung sitzt und wirkt erfühlt, aus dem Moment heraus entwickelt. Es war spannend, sie nun nach zwei Produktionen von „La Gioconda“ in der deutlich höher gelagerten Puccini Rolle zu hören. Sehr obertonreich, mit staunenswerter technischer Meisterschaft, zeigte sie eine faszinierende Rolleninterpretation in stimmlich splendider Verfassung. Leichte Eintrübungen in der Intonation fallen da nicht ins Gewicht. Vorzüglich ihre Artikulation und ihr verführerisches Spiel mit Nuancen. Auch bot sie ein weites dynamisches Spektrum in dieser schweren Rolle, was in dieser Form weltweit einzigartig sein dürfte. Kein Ton wirkte forciert, alles war formvollendet auf der Atemsäule gebildet, Mezzavoce Deluxe und überragende Diminuendi, jeweils am Ende der Rätselfragen verursachten immer wieder intensive Gänsehautmomente. Anna Netrebko singt in einer ganz eigenen Klasse und bleibt somit auch aktuell ein unangefochtener, vokaler Superlativ. Als Calaf war Yusif Eyvazov eingeplant, der diese Rolle am vergangenen Samstag bereits gesungen hat. Er sagte erkrankt ab, für ihn sprang die Premierenbesetzung Rodrigo Porras Garulo ein, der im Vorfeld bereits mit Netrebko probte. Darstellerisch engagiert, stand er stimmlich leider viel zu sehr im Schatten Netrebkos. Garulo besitzt einen schön timbrierten lyrischen Tenor, der viel besser bei Partien wie Pinkerton oder dem Rigoletto-Duca aufgehoben wäre. Er legte seine Rolle als fortwährende Kraftmeierei an, was insofern bedauerlich war, als er in den wenigen von ihm zurückgenommenen Momenten zeigen konnte, dass seine Stimme vor allem bei leisen Stellen viel mehr Wirkung zeigte. Garulo musste immer wieder massiv forcieren und die Vokale verbreitern, um sich Gehör zu verschaffen. Ein Tenor, der wie er nicht in der Lage ist, die so wichtigen Vokale „i“ und „u“ korrekt zu singen, hat markante Probleme. Und es ist schon bezeichnend, wenn die beiden Tenöre des Minister-Trios in der Höhe mehr Biss zeigten, als der Sänger des Calaf! Mangelhaftes Legato, erstaunlich kurzatmig und eine suboptimale Sprachbehandlung zeigten an der Seite der überragenden Netrebko deutlich und schmerzvoll seine Defizite auf. Tiefpunkt war ausgerechnet das mühsam dargebotene „Nessun Dorma“, das Garulo im lauten Forte begann, als würde er eine Tombola eröffnen. Das finale „h“ wurde mühsam gestemmt und nur kurz gehalten. Kein Applaus. Das Publikum feierte ihn zwar auch am Schluss, jedoch deutlich zurückhaltender als bei den Damen. Bei einem solchen Gala-Abend wäre eine adäquatere Besetzung, die es zur Genüge gibt (z.B. Martin Muehle, der bei den Maifestspielen den Otello singen wird), wünschenswert gewesen. So war es lediglich tenorale Kreisklasse in der Begegnung eines Weltstars.

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Foto: Monika und Karl Forster

Die Inszenierung stellt den Charakter der Liù in den Mittelpunkt, was ihre Wirkung verstärkt, da sie ohnehin die beiden berührendsten Arien zu singen hat. Heather Engebretson ist mit ihrer zierlichen Gestalt eine geradezu kindlich wirkende Dienerin Timurs, die weit über sich hinauswächst und ihre Rolle mit Hingabe bis zu Selbstverzehrung im Suizid gestaltet. Allerdings gab es auch bei ihr stimmliche Augenblicke der Forcierung und großer Anstrengung. Aber Puccini hat mit der Liu eine extrem dankbare Rolle geschrieben, sodass nahezu jede Sängerin damit immer ganz besonderen Anklang beim Publikum finden konnte, so auch hier. Bester Sänger aus dem Wiesbadener Ensemble war der Timur, den Young Doo Park imponierend mit starker Stimme verkörperte. Die Ping-Pang-Pong-Szenen zeigten einen gelungenen Mix aus Groteske und Spielfreude. Christopher Bolduc, Gustavo Quaresma und Ralf Rachbauer gefielen als Minister Ping, Pang und Pong und verliehen ihren Charakteren Leben und Witz. Erik Biegel war als Altoum arg quäkig und grell zu vernehmen. Markant der Mandarin in der Gestalt von Mikhail Biryukov.

Dirigent Michelangelo Mazza am Pult stellte sich ganz in den Dienst der berühmten Sängerin und sorgte überdies für einen reibungslosen Ablauf. Das Staatsorchester Wiesbaden spielte engagiert und klangschön, wirkte dabei aber interpretatorisch nicht sehr gefordert. Chorleiter Albert Horne hatte seine Chorscharen differenziert und vollstimmig gut einstudiert. Es war eine Freude, wie gut der Chor zu vernehmen war und den Abend musikalisch nachhaltig prägte. Gerade der Chor ist ein zentraler Aktivposten dieses Werkes. Und die vielen Sängerinnen und Sänger, wie auch der Kinderchor der Limburger Dommusik waren mit großer Spielfreude sehr singfreudig bei der Sache. Endloser Jubel, vor allem für die formidable Anna Netrebko, rundete einen besonderen Abend ab.

Dirk Schauß, 09. Mai 2024

Besuchte Vorstellung „Turandot“ am 08. Mai am Staatstheater Wiesbaden

Giacomo Puccini

Turandot mit Anna Netrebko

Fotos: Copyright Karl und Monika Forster

 

 

 

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