Auf der Bühne türmt sich ein graues Ungetüm aus Stahl und Beton. Es ist eine Wehranlage irgendwo im Nirgendwo zwischen Inn und Donau, an der sich, unbemerkt vom Rest der Gesellschaft, seit Jahrzehnten der Kampf zwischen Stadtreinigung und Graffitikünstlern abspielt. Noch während des Vorspiels sieht man Elsa am Kanalrand. Von sphärischen Klängen begleitet, lässt sich leise erahnen, dass sie dort gerade einen menschlichen Körper in die Fluten gleiten lässt. Hat sie gerade ihren Bruder umgebracht? Für die heimlich beobachtende Ortrud ist alles klar und so entfaltet sich an der Wiener Staatsoper das altbekannte Drama von Richard Wagner um den Brudermord.

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Lohengrin
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Oder doch nicht? Nur wenige Takte später wechselt Elsa ihre Kleidung, schlüpft in ein weiß-blaues Kleid aus den 1920ern und stopft die moderne Alltagskleidung in eine Plastiktüte; als wolle sie Beweismittel vernichten. Das nicht ganz librettotreue Rätsel wird sich erst zum Schluss lösen. Dann nämlich zieht Elsa ihren totgeglaubten Bruder wieder aus der Kloake. Dieser sieht nun aus, wie man eben aussieht, wenn man drei Stunden im Kanal unter den Schwänen hertreibt: Die Jeans zerrissen, die Lockenpracht zerstört.

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Malin Byström (Elsa)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Erst dann wird klar, was Jossi Wieler und Sergio Morabito mit dieser Inszenierung von Lohengrin eigentlich vorhatten: Elsa flüchtet sich, den Bruder für Tod gehalten, in eine historische Traumwelt. Dort taucht genau dieser Bruder – märchengleich – als tugendhafter Retter auf. Das unter der ebengleichen zerrissenen Jeans die mittelalterliche Plattenrüstung hervorblitzt, lässt zunächst lediglich beim irritierten Publikum Fragen aufkommen. Erst als sie Lohengrins Nam' und Art erfragt, zerplatz die schizophrene Blase.

Eine bewusste Entscheidung von Dramaturgie und Regie, so ist dem Libretto zu entnehmen, dem ideenschwangeren Stück den Mythos zu rauben. Nicht bei jedem im Publikum sorgt dieser langatmige Spannungsbogen für Anklang. Während der Pause erinnert sich die Damen neben mir nostalgisch an die Inszenierungen von Werner Herzog in Bayreuth.

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David Butt Philip (Lohengrin)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Zu Recht? Muss nicht gerade in der aktuellen Zeit auch daran erinnert werden, dass nicht nur Richard Wagners Musik, sondern auch seine politische Einstellung als durchaus revolutionär einzustufen war? Zur Uraufführung des Lohengrins befand sich dieser bereits im Schweizer Exil, nachdem er in Sachsen wegen „wesentlicher Teilnahme“ am Dresdner Maiaufstand per Steckbrief gesucht wurde. Ist es wirklich im Geist des Werkes, neue Inszenierungen seiner Stücke zum verstaubten Versatzstück aus dem teutonischen Wald samt romantischer mittelalterlicher Burgruinen verkommen zu lassen?

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Georg Zeppenfeld (Heinrich der Vogler)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Christian Thielemann, jedenfalls, fühlt sich zu neuen Höhen verpflichtet und führt das Orchester der Wiener Staatsoper an wie wohl aktuell kein zweiter. Selten hat man den Lohengrin so schlüssig, ausbalanciert und nahtlos kompakt gehört. Niemals lässt er das Orchester über die Sänger fahren, noch scheut er sich in den orchestralen Passagen (etwa im Vorspiel zum dritten Aufzug) vor dem überbordenden und alles für sich einnehmenden Fortissimo. Sein Dirigat wird selbst eingefleischten Wagnerianern das eine andere Oh! und Ah! entlocken. Verdient war der donnernde Schlussapplaus für seine Leistung. Zahlreiche besonders Begeisterte im Parket standen für ihn sogar auf.

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Anja Kampe (Ortrud)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Beim Rest des Ensembles muss man leider genauer hinschauen. Malin Byström als Elsa wirkt oft zu schrill, zu scharf und allzu kantig. Dass passt freilich zur Inszenierung und der Auslegung ihrer Rolle, aber wirkt vor den epischen musikalischen Tableaus, die Thielemann aus dem Graben zaubert, dennoch oft fehl am Platz.

Ähnlich verhält es sich mit David Butt Philip als Lohengrin. Was er da von der Rampe skandiert hat durchaus seinen jugendlichen Charm. Gerade im letzten Aufzug kann er, wenn man von der bisweilen etwa zu englischen Diktion absieht, durchaus mit heldischem Schmelz und stimmlicher Erhabenheit aufwarten. Doch auch hier irritiert das geckenhafte Element. Angewiesen von den Regisseuren, zupft er ständig an seiner Hose, die opulente Perücke wird konstant zurecht gerückt, und alles dies wird von allzu übertriebenen Mimik und Gestik untermalt. Lohengrin verkommt so zur Karikatur.

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Martin Gantner (Friedrich von Telramund)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Anja Kampes Auslegung der Ortrud ist hingegen jeglicher Kritik erhaben. Sowohl ihre Bühnenpräsenz, als auch ihre ausdrucksstarke Stimme überzeugen auf ganzer Linie. Sie ist in den Höhen kraftstrotzend, doch fehlt es ihr gleichsam nicht am kantablen Feingefühl. An ihrer Seite steht Martin Gantner als Friedrich von Telramund mit einem durchweg angenehm runden Bariton. Vielleicht war es von der Regie so gewollt, aber der despotische Herrschaftsanspruch blitz stimmlich leider nur selten durch.

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David Butt Philip (Lohengrin) und Malin Byström (Elsa)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Besonders aufgefallen ist dies an diesem Abend auch bei Georg Zeppelfeld. Ungewohnt wortdeutlich gibt er sich als Heinrich der Vogler – fast als wäre dies ein intimer Schubertabend. Das ist für sich gesehen durchweg schön anzuhören, doch sägt er mit jeder seiner feingeistigen Phrasen an dem von ihm verkörperte Autokraten.

Und so kann der Abend als musikalisch außergewöhnlich und sängerisch solide eingestuft werden. Insgesamt bietet diese Koproduktion mit den Festspielen in Salzburg eine konkludente und abwechslungsreiche Lesart von Wagners Stück. Nicht unbedingt eine bahnbrechende Neuinterpretation aber auch keine altbackene Klamotte von Vorvorgestern.

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