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Jakob Benkhofer, TANZ_KASSEL © Sylwester Pawliczek (MACHMA MACHMA).

Jakob Benkhofer, TANZ_KASSEL © Sylwester Pawliczek (MACHMA MACHMA). 

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Überwältigend – Wolfgang Rihms „Die Hamletmaschine“ am Staatstheater Kassel

Vorspann / Teaser

Kann man, darf man, soll man …? Rihms „Hamletmaschine“ ist mehr Mythos als Repertoire. In großen Abständen fühlt man ihr auf den Zahn. Nun traute sich Kassel.

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In Kassel gab es in den vergangenen Wochen viel Kakophonie: der Verzicht von GMD Francesco Angelico auf eine Vertragsverlängerung wegen des Dauerzwists mit dem Intendanten Florian Lutz, eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung um angebliche Verletzungen der Schweigepflicht von Orchestermusikern im Findungsprozess für den neuen GMD, Mobilisierungen für und gegen eine Verlängerung des Vertrags von Lutz. Zumindest die Intendantenpersonalie ist entschieden: Der wegen seiner durchweg ideologischen eigenen und in Auftrag gegebenen Inszenierungen umstrittene Chef darf bis 2031 bleiben. Wie erst spät herauskam, hatte die Vorgängerin des neuen Ministers Timon Gremmels, die grüne Angela Dorn, die Angelegenheit noch kurz vor ihrem Abtritt schon vorentschieden. Ein merkwürdiges Vorgehen.

Nun aber hat sich der Vorhang wieder gehoben – hätte …, wenn es in der Raumbühne „Antipolis“ im Kasseler Opernhaus noch einen geben würde. Mit Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“ feierte eine Oper Premiere, die von Verlag und Staatstheater als „Meilenstein des zeitgenössischen Musiktheaters“ apostrophiert wurde, ein Meilenstein freilich, der seit seiner Uraufführung 1987 nur viermal gesetzt wurde. Die Abkehr von der Literaturvertonung, die Rihm durchexerzierte, wird theoretisch gelobt, kommt aber kaum auf die Bühne. Nach Sebastian Baumgartens Zürcher Inszenierung von 2016 sind auch schon wieder acht Jahre vergangen. Davor herrschten sogar 26 Jahre Stille. Das muss nicht gegen das Werk sprechen, deutet aber auf die Komplexität der Vorlage, Heiner Müllers gleichnamigen kurzen Text (der als Schauspiel seit 1977 an die hundert Inszenierungen und mehrere Übersetzungen erfahren hatte). 

In Kassel wurde die Neuinszenierung zum Spektakel. Gespart wurde an nichts: „sinnlich immersives Totaltheater“ war die Devise. Das Publikum erlebte knapp zwei Stunden Überwältigung und kalkulierte Überforderung. Das Ost-Sandmännchen zusammen mit Ulrike Meinhof in einer Inszenierung, das dürfte ein Novum sein. 

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Mila Levy, Selene Martello, Kesi Rose Olley Dorey © Sylwester Pawliczek (MACHMA MACHMA).

Mila Levy, Selene Martello, Kesi Rose Olley Dorey © Sylwester Pawliczek (MACHMA MACHMA). 

Text

Heiner Müllers Text ist enigmatisch, viel kann in ihn hinein beziehungsweise aus ihm herausinterpretiert werden: die Lage des DDR-Intellektuellen, die Notwendigkeit des Aufstands und sein Scheitern in Gewalt, die hilflose Rolle der Kunst, die Täter-Opfer-Umkehr, die gedankliche Anbindung an die antike Tragödie. „Hier spricht Elektra“, sagt Ophelia am Ende.

Das Kasseler Regieteam, zu dem neben Florentine Klepper auch der Choreograph Valentin Alfery gehörte, tat gut daran, das Bühnengeschehen, das den ganzen Theaterraum inklusive Parkett und Emporen bespielte, nicht zu eindeutig in eine Richtung zu bürsten. Einzig der Einlauf der Protestbewegungen von den Suffragetten zu Fridays for Future und Black Lives Matter konkretisierte etwas. Doch legten sie ihre Attribute auch gleich wieder ab. Marx, Mao, Lenin traten textkonform als Großköpfe auf, blieben aber Episode. Die Assoziationsräume, die der Text den Zuschauern öffnet, wurden nicht verengt. Wer die wenigen Seiten des „Librettos“ vorher nicht gelesen hatte, konnten sich vom puren Spektakel faszinieren lassen. 

In den ersten Szenen agierte das Ensemble „TANZ_KASSEL“ emsig mit – künstlerisch gekonnt zwar, doch letztlich beziehungslos zum Kerngeschehen mit den drei Hamlets und vier Ophelias. Die Raumbühne wurde nur teilweise ausgenutzt, da wäre mehr vorstellbar gewesen. Immerhin sorgten im Raum verteilte Schlagzeugstationen für einen außergewöhnlichen Rundum-Klang. Überhaupt die Musik: Francesco Angelico und sein ihm treues Staatsorchester hatten einen großen Abend. Die gegenüber dem Text nicht minder komplexe Partitur Rihms, die nach bald vierzig Jahren nicht angestaubt daherkommt, sondern ein Schlaglicht auf die große Zeit der (N)neuen Musik wirft, fordert vollen Einsatz und allerhöchste Konzentration. Beeindruckend, wie der Dirigent, der für das Publikum über die Bildschirme gut zu beobachten war, mit klarer Zeichensprache das Ganze zusammenhielt. Großartig auch die beiden vokalen Hauptrollen: Peter Felix Bauer (in der zweiten Aufführung am 14. März leicht angeschlagen) als Hamlet und Annette Schönmüller als Ophelia.

Was bleibt? Ein totaler Theaterabend mit Orchester, Chören, Schauspiel, Tanz, Video, Statisterie – und mit genügend Futter für den Kopf. 

  • Die letzten Termine: 16., 22. und 24. März 2024

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