Ein faszinierender Opernabend! – „Jolanta“ von Tschaikowski und „Le Rossignol“ von Strawinski im MiR Gelsenkirchen

Musiktheater im Revier/ROSSINGNOL/ Foto: Pedro Malinowski

Die jungen Regisseurinnen Tanyel Sahika Bakir und Kristina Franz schufen mit zwei Opern nach Kunstmärchen, die in der Regel nur konzertant aufgeführt werden, einen spannenden Opernabend. Beide misstrauten dem Happy End der Märchen. Rasmus Baumann mit der Neuen Philharmonie Westfalen gestaltete mit den Sängerinnen der Titelrollen, Heejin Kim (Jolanta) und Lisa Mostin (Nachtigall) und einem exzellenten Ensemble zwei bildstarke Opernaufführungen. Die Puppenspieler in der Rolle der Strawinsky–Büste mit Geistergewand als Tod unterstrichen den märchenhaften Charakter. (Rezension der Vorstellung vom 09.03.2024

 

Die beiden Kurzopern „Jolanta“ von Peter I. Tschaikowski (80 Minuten in russischer Sprache) und „Le Rossignol“ (45 Minuten in französischer Sprache) von Igor Strawinsky zu kombinieren war eine sehr gute Idee des Musiktheaters im Revier. Premiere war am 24. Februar 2024. Beide Stücke basieren auf Kunstmärchen, die durch die Figur der Brigitta, Dienerin Jolantas, danach Köchin des Kaisers und durch märchenhafte Kostüme von Hedi Mohr und stilisierte Bühnenbilder von Julia Schnittger im gleichen Stil verknüpft werden. Ich habe sie bisher nur in der Kölner Philharmonie konzertant erleben können.

Tschaikowskis „Jolanta“ ist eine der wenigen Opern, die eine „Behinderte“ als Titelfigur hat. Jolanta ist die von Geburt an blinde Tochter des Königs René, der dafür sorgt, dass sie sich ihrer Blindheit und ihrer Herkunft nicht bewusst wird. Sie wird in einem schönen Garten von drei Bediensteten, die ihr jeden Wunsch erfüllen, man kann schon sagen, gefangen gehalten. Das drückt die graue Betonmauer aus, die, nur mit zwei verschlossenen Türen, die Bühne begrenzt. Jolanta ahnt, dass ihr etwas fehlt: „Sind denn die Augen nur zum Weinen da?“ Aber der Vater treibt großen Aufwand mit Wachpersonal, das verhindern soll, dass eine fremde Person Jolanta über ihre Besonderheit – blinde Königstochter – aufklärt. Der maurische Arzt, den René ruft, stellt fest, dass lolantas Blindheit heilbar sei, aber sie müsse sich der Blindheit bewusst sein und selbst ihre Heilung wünschen. Der König lehnt die Behandlung ab.

Aber Gottfried Vaudémort und sein Freund Robert von Burgund, zwei Ritter, kommen zufällig in den Garten, obwohl der Zutritt streng verboten ist. Robert will sich von seinem Eheversprechen, das seine Eltern, als er noch Kind war, dem König René gegeben haben, entbinden lassen, weil er eine andere liebt.

Musiktheater im Revier/JOLANTA/ Foto: Pedro Malinowski

Vaudémort bleibt in dem Garten während Robert Hilfe sucht, und verliebt sich auf der Stelle in die wunderschöne Prinzessin. Im Gespräch stellt er fest, dass sie blind ist, und klärt sie über ihren Zustand auf, er wolle sie aber trotzdem heiraten. König René ist erbost darüber, dass Vaudémort Jolanta ihre Unschuld geraubt hat und bedroht ihn mit dem Tod. Man einigt sich, dass der Arzt versuchen soll, Jolanta zu heilen. Sollte die Heilung nicht gelingen, müsse Vaudémort sterben. Die Heilung gelingt, Jolanta kann sehen. Aber Jolanta findet sich in der Realität nicht zurecht. König René ist mit der Hochzeit Jolantas mit Vaudémort einverstanden und entbindet Robert von seinem Heiratsversprechen.

Während das ursprüngliche Libretto eigentlich nur den Sieg der Liebe in strahlendem Dur preist, befrachtet die Regisseurin die Handlung mit maskiertem Wachpersonal und Szenen der Gewalt. Am Ende stehen sich Vaudémort und René mit Schusswaffen gegenüber. Warum wird das Happy End so übel konterkariert? Reicht es nicht, dass Jolanta erkennt, dass ihr Vater sie in ihrer Unmündigkeit halten wollte? Oder will die Regisseurin die Gefangenschaft, die die Überbehütung ja ist, mit so drastischen Mitteln darstellen?

Die besondere Verletzlichkeit einer von Geburt an blinden Person, ihre Melancholie und schließlich die Freude über ihre Heilung stellte Heejin Kim als Jolanta mit facettenreichem lyrischem Sopran überzeugend dar. Mit ausdrucksstarkem tiefem Bass gab Luciano Batinić den überbesorgten Vater und autoritären König. Khanysio Gwenxane gestaltete einen attraktiven Gottfried Vaudémort, stimmlich sehr viril, aber in den lyrischen Passagen nicht immer homogen. Die übrigen Partien waren aus dem Ensemble adäquat besetzt, der Opernchor und Damen-Extrachor sowie die Neue Philharmonie Westfalen überzeugten mit Tschaikowskis romantischer Musik auf der ganzen Linie. Die märchenhaften Kostüme von Hedi Mohr und die stilisierten Bühnenbilder von Julia Schnittger stellten eine gewisse Homogenität der musikalisch so unterschiedlichen Werke her. Die umgebende Mauer blieb für „Le Rossignol“ Bühnenbegrenzung, mit Dreheffekten erschienen Räume des kaiserlichen Palasts.

Die Westfälische Philharmonie unter der Leitung von Rasmus Baumann blieb auch der anspruchsvollen vielfarbigen Partitur von Strawinskys „Le Rossignol“ nichts schuldig. Strawinsky selbst war der Meinung, man solle sein Werk besser konzertant aufführen, aber mich hat die bezaubernde Inszenierung von Kristina Franz mit den Puppen, die den Geist Strawinskys und gleichzeitig den Tod darstellten, auf der ganzen Linie überzeugt. Der Komponist wird als Büste, die Beine wie ein Kopffüßler bekommt und später als überlebensgroßer Geist als Beobachter des Geschehens dargestellt, was den märchenhaften Charakter der Geschichte unterstreicht. Die drei Puppenspielenden, die diese Puppen bewegten, bekamen großen Applaus.

Musiktheater im Revier/ROSSINGNOL/ Foto: Pedro Malinowski

Die Handlung des Kunstmärchens von Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1843 ist vielschichtig. Die schachspielende Brigitta unterhält sich mit dem Fischer über den ergreifenden Gesang der Nachtigall. Die wunderschön schwebenden chromatischen Läufe sind dem Gesang des Vogels von Strawinsky täuschend echt nachempfunden. Eine Abordnung des Kaisers zwingt Brigitta, den Weg zur Nachtigall zu weisen. Die Nachtigall willigt ein, am Kaiserhof zu singen, und Brigitta wird zur Köchin befördert. Die Nachtigall möchte kein Honorar für ihren Gesang. Dass sie den Kaiser zu Tränen rührt, ist ihr größter Lohn.

Japanische Gesandte überbringen eine künstliche Nachtigall, hervorragend gespielt von der Oboe, die als Nachahmung alle in den Bann zieht. Die echte Nachtigall flieht und wird wegen ihres Ungehorsams vom Kaiserhof verbannt.  Als der Kaiser im Sterben liegt und Geister auftreten, die ihm seine Vergehen vorwerfen, ruft er die echte Nachtigall an sein Totenbett. Sie feilscht mit dem Tod um das Leben des Kaisers, während Brigitta den Tod zu einer Schachpartie auffordert. Aber der Tod setzt sie schachmatt. Der Tod hat trotz des Gesangs der Nachtigall – abweichend vom Libretto – triumphiert. Aber der Abschied gehört zur Natur, wie der Neubeginn. Strawinskys am 26. Mai 1916 in Paris uraufgeführte Kurzoper ist hochkonzentriert und wirft die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Künstlichkeit auf, das im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz noch brisanter wird als bei der Musikrezeption.

Die zierliche Lisa Mostin leiht der Nachtigall ihren hochvirtuosen Koloratursopran, Alfia Kamalova ist als lyrischer Sopran Brigitta, die Köchin, die sie an den Kaiserhof bringt, Urban Malmberg ist der Kaiser. Die übrigen Rollen sind aus dem Ensemble adäquat besetzt. Die Puppen von Jonathan Gentilhomme verdeutlichen in Gestalt der Strawinsky-Büste den von einem Kopffüßler zum überlebensgroßen Gespenst wachsenden Tod, mit dem an diesem Abend die friedliche Koexistenz geschlossen wird. Es ist eine beglückende Adaption des Märchens von Andersen, der die Puppenspieler die Würze verliehen.

Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall, denn die beiden selten gespielten Werke werden noch seltener szenisch umgesetzt und gewinnen durch die Bebilderung enorm. Langanhaltender Applaus auch bei der Vorstellung am 9. März 2024.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • MiR Gelsenkirchen / Stückeseite
  • Titelfoto: Musiktheater im Revier/JOLANTA/ Foto: Pedro Malinowski

 

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