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Mieczyslaw Weinberg: „Die Passagierin“ Der Alptraum, die Täterin zu sein

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Gemischtes Festbankett, auf den Tischen: Mehrere Martas, vorne in Blau: Lisa.
Gemischtes Festbankett, auf den Tischen: Mehrere Martas, vorne in Blau: Lisa. © Wilfried Hoesl

Tobias Kratzer inszeniert Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ ohne KZ-Kleidung und SS-Uniformen – ein verkopfter und doch auch zutiefst eindrucksvoller Abend

Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg, 1919 in Warschau geboren, 1996 in Moskau gestorben, ist eine große Oper, die in Rückblenden in das KZ Auschwitz führt, Sequenzen, deren realistischer Gehalt gebrochen ist. Gebrochen aber nur durch ihre gespenstische Wiederkehr viele Jahre später im Kopf der einstigen KZ-Aufseherin Lisa. Gleichwohl wird es also darum gehen, die einen Darstellerinnen als KZ-Insassinnen auszustatten, andere Mitwirkende als SS-Leute. Seit „Die Passagierin“, 1968 entstanden, erst 2010 szenisch uraufgeführt wurde, wird es so gemacht, mehr oder weniger stilisiert. Weinbergs Musik, auf einen Text nach dem Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz, bewegt sich so unmittelbar am Geschehen entlang und durchdringt es so kompromisslos, dass das möglich ist. Zuletzt war es am Staatstheater Mainz zu erleben.

An der Staatsoper in München geht Tobias Kratzer einen anderen Weg. Die „direkte Darstellung von Auschwitz“, erklärt er im Programm, finde er problematisch, seit er das Stück kenne. „Es widerspricht ja sämtlichen Darstellungstabus, die man seit 1945 im ästhetischen Diskurs so kennt und die ich komplett teile“ (ich auch, was zwar nichts zur Sache tut, aber einen zarten Hinweis darauf gibt, dass diese Bedenken mit Blick auf „Die Passagierin“ dennoch nichtig sein könnten). Grundlage seiner Überlegungen ist der Tod Zofia Posmysz’ 2022, die bis dahin alle Inszenierungen als Zeitzeugin begleitet und „legitimiert“ hatte. Nun sei man „in diesen Fragen aber gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen“. Das ist offensichtlich ein zwiespältiger Satz, wenn man ihn in diesem Zusammenhang aus deutscher Perspektive ausspricht.

Jedenfalls versuchen Kratzer und der Ausstatter Rainer Sellmaier in einer zutiefst ernsten und bis ins Verkopfte durchdachten Inszenierung etwas Neues. Vladimir Jurowski und das Staatsorchester loten Weinbergs Musik dabei so tief aus, wie man sie selten hören kann. Vielleicht ist man auch bloß immer noch dabei, sich an ihre Größe zu gewöhnen. Die Entzeitlichung, die Kratzer testet, wird dadurch beglaubigt, ohne dem von Weinberg sehr konkret eingearbeiteten Farbenreichtum etwas zu nehmen – Tanzmusiken, Liedlein, die die Vielsprachigkeit des Textes unterstreichen.

Das Schiff, auf dem „Die Passagierin“ spielt und die glücklich verheiratete Ex-KZ-Aufseherin Lisa zu ihrem Entsetzen in einer Mitreisenden die damalige polnische Gefangene Marta wiederzuerkennen glaubt –, ist im ersten Akt eine bühnengroße Schiffswand mit Kabinen und Balkons. Kratzer und Sellmaier zeigen heutige Reisende beim Drink. Lisa, auf ihre Vergangenheit gestoßen, hört Stimmen, die aber nicht von aus der Vergangenheit auftauchenden KZ-Insassinnen kommen, sondern von den Reisenden im Freizeitlook. Es sind die Stimmen in Lisas Kopf, die Vergangenheit ist vorbei, die Täterin ist allein damit.

Sophie Koch ist als Lisa mit einem Schönsingverbot belegt, das sie ernst nimmt, Weinberg gönnt ihr kaum Melodielinien, alles ist abrupt, brüchig. Auch die Beziehung zu ihrem Mann, dem markanten Tenor Charles Workman, ist gut, aber nun auch unbehaglich. Als (zunächst) die erleichternde Nachricht eintrifft, dass die Passagierin Engländerin sei, schlafen die beiden miteinander. Wie viel inniger wird nachher die Liebe der Todgeweihten dargestellt werden, Marta und Tadeusz, der wie sie in Auschwitz sitzt. Tadeusz bekommt zudem bei Jacques Imbrailo angenehmste Baritonruhe. Marta hat mit Elena Tsallagovas jugendlichem, golden-warmem Sopran die schönste Klangwirkung des Abends.

Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid, die weichen Haare offen. Schon im ersten, erst recht im zweiten Akt multipliziert sie sich in ihren Mitgefangenen. Kratzer und Sellmaier verweigern die rasierten Schädel, zeigen keine Opfer, sondern ernste Zivilistinnen und freie Menschen. Eine starke Setzung, aber sie entfernt auch die Geschichte, die Posmysz und Weinberg erzählen wollten.

Die Szene im ersten Akt gehört bei Kratzer vorerst der „Alten Lisa“, der Schauspielerin Sibylle Maria Dordel, die zeigt, wie die Täterin all dies als alte Frau erneut erinnert, und, ja, sie durchleidet es auch, die Schuld, die ihr im Text und der Welt nicht vergeben wird. Dordel spielt das stumm und expressiv. Mitleid kann Lisa nicht erhoffen. Kratzer lässt sie im Video (Manuel Braun, Jonas Dahl) im Meer versinken.

Der Ort, an dem wiederum Sophie Koch nach der Pause im zweiten Akt erwacht, ist ein riesiger Speisesaal. Hier wird noch deutlicher, dass das allein Lisas Alptraum ist: In einer aufgekratzten Captain’s-Dinner-Atmosphäre (nachher mit Riesenchor, Christoph Heil) irrt Lisa als verstörte und verwilderte Frau umher. Überall tauchen die jungen Frauen mit den schönen Haaren auf. In der Oper überwiegen nun die (erinnerten) Szenen im KZ. Es ist bewundernswürdig, wie Kratzer nach Bildern für Schikane und brutalste Gewalt sucht. Ein Geigenbogen als Waffe, der schwarze Steward wird von seinen Kollegen gejagt, Marta bekommt das Kleid herunter gezerrt. Freilich fehlt zugleich die Sympathie, mit der Weinberg beginnt, die Frauen vorzustellen, die in München restlos ununterscheidbar bleiben. Freilich fehlt das KZ. Wer „Die Passagierin“ noch nicht kennt, kann praktisch ignorieren, an welchem Ort Lisa damals gearbeitet hat. Das ist beim Zuschauen angenehmer, als es sein sollte. Entzeitlichung ist auch Melancholisierung. Am Ende wird ein kleiner Fernsehbildschirm hereingeschoben. Auch in Reihe 17 begreift man, dass da historische KZ-Bilder gezeigt werden. Wer Augen hat, der sehe.

Das ist eine „Passagierin“ für fortgeschrittene Operninteressierte. Je besser man diese Oper kennt, desto überzeugender sind Kratzers Entscheidungen. Nein, nur wenn man diese Oper bereits gut kennt, kann man mit Kratzers Lesart etwas anfangen, ohne es sich selbst zu leicht zu machen. Der Beifall: sehr respektvoll.

Nationaltheater, München: 13., 16., 22., 25. März und zu den Opernfestspielen im Juli. www.staatsoper.de

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