Jede Zeit trägt ihr Kreuz – „Parsifal“ an der Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin/PARSIFAL/Foto: Bettina Stöß

An Wagners letztem Werk kann man sich die Zähne ausbeißen, so weit scheinen die Publikumsmeinungen da auseinanderzugehen. Weg mit diesem religiösen Ballast, der stört; von wegen, diese modernen Einfälle, die stören!, ach, Parsifal mache ich ohnehin nur noch konzertant  – klassischer Diskurs unter streitlustigen Wagnerianern auch bei Philipp Stölzls Inszenierung des Parsifal an der Deutschen Oper Berlin, zunächst aufgeführt 2012 und nun wieder zu sehen. (Rezension der Vorstellung vom 3.3.2024)

 

Sir Donald Runnicles zeichnet im Graben die Langsamkeit des Bühnengeschehens vor, entpuppt sich allgemein als kein Freund des Plötzlichen. In den Gralsschwingungen findet er sich wieder, in fließenden Harmonien, im Verhallen-Lassen und Stille-Hören. Ohnehin gelingt ein sehr stiller Parsifal: der Saal mutet totenruhig an. Leicht wackelige Blechbläser fangen sich nach dem ersten Akt. Diese Ruhe mit gelegentlich dunklen Zwischentönen kommt gerade Klingsors Motiven in dessen Abwesenheit zupass – während seiner Anwesenheit dürfte Runnicles jedoch an manchen Stellen zu etwas mehr Dramatik greifen. Dennoch, die Getragenheit erinnert an einen Gottesdienst und ist damit durchaus recht am Platze. Frustrierend gestört wird das akustische Eintauchen in Wagners letztes Werk jedoch während des ersten Aktes durch einen hohen Pfeifton, und dies eine knappe Stunde lang. Offenbar handelte sich um ein Problem entstanden durch falsch eingestellte Hörgeräte, lässt die Direktion bekanntgeben – ob ein paar wenige Hörgeräte tausendachthundert Menschen allerdings zu der interessanten Kollektiverfahrung treiben können, dass jeder einzelne meint, den akustischen Verstand ganz allein zu verlieren, bleibt bis zum Ende fraglich, brummt manch ein Gast und wittert kleine Verschwörungen.

Zur Ouvertüre serviert Regisseur Philipp Stölzl die biblische Kreuzigungsszene, der Moment, in dem Christus stirbt; der Speer, um den es die nächsten vier Stunden gehen soll, kommt ebenfalls zu seinem heiligen Einsatz. Der erste Akt erfolgt gänzlich in Ritterkluft, die an die der Tempelritter erinnert (Kostüme: Kathi Maurer). Auch bei den Gralsbrüdern herrscht Strenge und eine wackelige Ordnung; Kundry, fast allseits unbeliebt, genießt von Gurnemanz nur mageren Schutz. Parsifal, ein moderner und unverständiger Mann, im Geschäftsanzug von der Stange auftretend und gänzlich losgelöst von dieser religiösen Welt, versteht selbstverständlich von den Ideen dieser Brüder rein gar nichts, schon gar nicht vom Auftritt eines Büßerzugs der Flagellantenbewegung pünktlich zur Gralsenthüllung. Diese scheint nicht nur die Gralsritter zu speisen und zu tränken, sondern auch eine kriegerische Begeisterung zu entfachen. Immerhin auf „Selig im Glauben! Selig in Liebe!“ bleiben die schwingenden Schwerter für einen Moment in der Luft hängen. Da punktet die subtil kritische Beobachtung, dass sich eine Religion, dessen zentrale Figur Christus sich eigentlich Frieden und Nächstenliebe verschrieb, in ihrer Historie „heilige Kämpfe“ keinesfalls nur in theologischen Debatten ausführte, sondern auch im Morden. Das Nachsehen des Gralsrituals hat, wie immer, Amfortas: sich festklammernd an einem großen Holzkreuz schleppt er sich, sein Leben und seine Schmerzen verlängert, von der Bühne.

Deutsche Oper Berlin/PARSIFAL/Foto: Bettina Stöß

Klingsor lebt unterdessen in einer Art Parallelwelt der Gralsritter: der Gegenspieler der Bruderschaft vollbringt Menschenopfer in einem heidnischen Tempel, gekleidet wie ein urzeitlicher Schamane, der einem Gefangenen bei lebendigem Leibe das Herz entreißt. Das zeichnet eine dünne Linie vom Hexer bis zum Gralskönig: gelten leidende Könige eigentlich auch als Menschenopfer, auch wenn sie nicht sterben? Klingsors Gärten präsentieren unterdessen entzückend mit Grün überwachsene Blumenmädchen in einem leicht halluzinatorisch anmutenden grünroten Licht (Beleuchtung: Ulrich Niepel). Parsifal ersticht Klingsor auf „In diesem Zeichen banne ich deinen Zauber“ allerdings schlichtweg von hinten – von wegen Kreuzzeichen. Treffer versenkt: Kirche macht Machtpolitik, um sich lästiger anderer Ideologien zu entledigen. Nach dieser vielversprechenden kritischen Betrachtung des historischen Christentums verläuft sich der dritte Akt allerdings im Präsens: offensichtlich haben die Überbleibsel der Gralsritterschaft zweitausend Jahre auf den Erlöser gewartet, in modern-schmutziger Kleidung. Die Ankunft Parsifals, des neuen Erlösers, bringt jedoch unheilvolle Vorgänge mit sich: einige getaufte Statisten nehmen schleichend-fratzenartige Gebärden an und stürzen sich in Zeitlupe auf alles, was noch sündig ist, will heißen: Kundry, die eine unfreiwillige Wassertaufe erleidet. Zur letzten Enthüllung des Grals schleift Amfortas unter Peitschenhieben des Chors ein übergroßes Kreuz auf seinen Schultern, Christusgleich – anders als dieser jedoch rammt sich der König den heiligen Speer selbst in die Brust und stirbt daran. Selbstmord als letztmögliche Sünde eines Lebens, als großer Kontrast zu Jesus, der durch die Hände anderer starb – aber trotzdem eine Erlösung vom Leiden? Die Religion wird unter dem neuen Erlöser Parsifal schließlich demokratisiert: nicht eine Autorität enthüllt den Gral, sondern Statisten als Symbol normaler Sterblicher. Diese Neuerung scheint der Gesellschaft nicht zur Gesundung zu verhelfen: süchtig streckt das Volk die zitternden Hände nach einer Erlösung aus, die angesichts des allgemeinen Zustands ferner denn je scheint. „Religion ist Opium für das Volk“, sagte Karl Marx? Erlösung durch göttliche Vertreter ist ein Schmarrn? Traue nichts, was aus Klingsors Gärten kommt? Schade, irgendwie, dieser Wust von Andeutungen, der sich zuletzt nicht recht zu festen Fäden spinnen lässt, ist Stölzls Inszenierung doch eine der sehr wenigen, die sich den religiösen Bezügen der Oper widmen– wenn auch mit viel Skepsis und noch viel weniger Optimismus, dass daraus auch Positives sprießen kann, dass Glauben nicht nur aus Zwang, Strafe und Dogma besteht. Erlösung durch einen Erneuerer ist nicht; viel eher: Bonjour, neugeborener Fanatismus! Trotz erfrischend altmodischer Ästhetik also dann doch eine moderne Perspektive.

Klaus Florian Vogt ist als Titelfigur im Anzug das Abbild der unschuldig-einfältigen Stieläugigkeit und erfreulicherweise aus dieser Rolle stimmlich keinesfalls herausgewachsen, trotz Tristan-Debüt und stetig häufiger werdenden Siegfried-Engagements. Der Tenor strahlt mit gesetzt-jugendlichem Klang und frei segelnder Lautstärke und schafft das Schwerste ganz selbstverständlich: die Zeichnung der Unschuld. Als Gurnemanz steuert Günther Groissböck seinen robusten, doch nie uneleganten Bass bei. Manche Noten und ihre Ansätze scheinen an diesem Abend an Dichte verloren zu haben, was aber einer Indisposition geschuldet war. Dennoch meistert Groissböck als erfahrener Gurnemanz seine Monologe sehr gekonnt und bringt die Partie, besonders dann im dritten Akt, mit seiner großen Erfahrung  gut über die Ziellinie.

Der Bariton des Amfortas (Jordan Shanahan) tönt derweil rund im Klang mit leichter Bitterkeit versetzt, gekonnt lebendig für einen leidenden Mann. Shanahan meistert vor allem seinen letzten Auftritt als Todsuchender und steuert ganz unerwartet eines der packendsten Bilder des Abends bei: ein Schmerzensrasender, der mit blanken Händen in die Klinge eines Schwertes greift und versucht, zum Entsetzen eines Ritters, der sein Schwert festzuhalten versucht, sich damit zu erstechen. Sein Gegenpart, der verdorbene Ritteranwärter Klingsor (Joachim Goltz), steuert unterdessen ein prächtig gellende Spitzentöne bei, gerade in seinen „Herauf! Herauf!“-Schwüren. Andrew Harris als Titurel bewundert man um die schlohweiße Perücke sowie um seinen virilen Bass, der dem Tode gar nicht nahe scheint. Die tiefen Töne der Mezzosopranistin Irene Roberts als Kundry brauchen zunächst Zeit, sich zu entfalten, mit Hast ist da nichts, doch das satte Mittelregister fällt sofort auf. Verführung liegt dieser Stimme ganz besonders, wie sie die Töne zart ansetzt und anschwellen lässt, das hat Form und Sinnlichkeit – und offenbart ohne Verschuldung der Sängerin selbst eine der größeren Schwächen der Inszenierung. Ausgerechnet die einzige Frauenfigur dieser von Männern dominierten Geschichte ist arg in der Rolle der Verführerin angelegt und wenig in der Erfahrungstiefe einer Unsterblichen. Die meisten Figuren bleiben ohnehin als Typen angesiedelt, die Dimensionalität der Charaktere befindet sich bei manchen gerade zwischen ausreichend und mangelhaft – trotz engagierter und darstellungserfahrener Besetzung. Der Chor, immer wieder für große Bilder eingesetzt, erfreut durchweg, ganz besonders mit androgynem Klang in den ersten Tönen des „Nehmet hin meinen Leib“.

Im Publikum entspinnen sich während der Pausen teils religionszentrierte Gespräche. Die Menschen entfernen sich nicht wegen den vielen Skandalen von der Kirche, argumentiert einer eifrig brezelkauend, sondern, weil die Leute sagen, immer dasselbe da! Wir haben niemanden, der diese Geschichte für neue Generationen erzählen kann! Aber das brauchen wir! Auch bei dieser Inszenierung bleibt die Frage, wie viel davon neu ist. Der Religionsskeptizismus aus der heutigen Zeit sicher nicht, die Ästhetik aus älteren Tagen dafür aber auch nicht. Die Inszenierung landet, trotz starken ersten und zweiten Aktes und kluger historischer Kritik, in einem vagen Zwischenraum: die Tradition ist unerfüllt, die Moderne schmeckt abgestanden. Manch einer wartet wohl immer noch auf eine erlösende Inszenierung.

 

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