1. Startseite
  2. Kultur
  3. Theater

Oper „Dark Fall“ in Mannheim – Ich falle in Stücke

KommentareDrucken

Dunkel der Fall, dunkel der Herbst: Estelle Kruger als Ellen in „Dark Fall“.
Dunkel der Fall, dunkel der Herbst: Estelle Kruger als Ellen in „Dark Fall“. Maximilian Borchardt © Maximilian Borchardt

Die Demenz-Oper „Dark Fall“ von Hans Thomalla in einer äußerst eindrucksvollen Uraufführung des Nationaltheaters Mannheim.

Die Angst vor Alzheimer-Demenz, einer eigenen oder einer in der nahen Umgebung, ist zu Recht groß. Die Sache selbst ist aber auch so vielfältig und wesentlich – über weite Strecken ja vor allem eine gewaltige, zwar diagnostizierbare und mit etlichen Gemeinsamkeiten versehene, aber auch ganz individuell ausgeprägte Zustandsveränderung –, dass man nicht genug darüber reden und nachdenken kann. Selbstverständlich wird im Programmheft aus Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ zitiert.

Da die Oper eine Expertin für individuell ausgeprägte Zustandsveränderungen ist, muss sie sich für Demenz interessieren. Noch dazu bleibt die Musik mit ihrer tiefgreifenden Allmacht für Menschen, die diese Erfahrung machen, unter Umständen ein letzter Anker, eine letzte Verhakung ins Leben davor. Sehr viele Beispiele gibt es noch nicht („Alzheim“ von Xavier Dayer etwa, 2017), aber Hans Thomallas „Dark Fall“, jetzt vom Nationaltheater Mannheim im Schlosstheater Schwetzingen uraufgeführt, wird ein einschneidendes sein. Und sollte hoffentlich von der verbreiteten Unart, Opern nicht zu einer Zweitaufführung in Erwägung zu ziehen, nicht zu sehr behindert werden.

Allerdings gelingt hier direkt eine maßgebliche Aufführung in jeder Weise, angefangen mit der imposanten Sopranistin Estelle Kruger als markerschütternde Hauptfigur – eine ältere, aber keineswegs alte Frau mit allen auch romantischen Sehnsüchten, die wir hegen, nun allerdings überrumpelt – bis zu einer klugen, dezenten, nicht schönenden Inszenierung. Sie ist sogar ein wenig verblümt. Verblüffend, dass man anscheinend ausgewrungenen Bildmotiven mit einer auseinanderfliegenden Pusteblume oder einer sommerlichen / winterlichen Blumenwiese noch einmal mit solcher Ergriffenheit zuschaut, wenn der Zusammenhang einleuchtet. Oder einem Kind und einer Tänzerin (Carla Torrisi, Choreografie: Luches Huddleston jr.), deren Kleider signalisieren, dass sie vergangene Ichs der Protagonistin sind. Im Nebel des Vergessens tauchen sie auf, viel realistischer als die sogenannte Realität, an der auch Angehörige zu zweifeln beginnen. All die Kompromisse im Kopf, mit denen sich jeder so oder so in der Übersichtlichkeit arrangiert.

Regisseurin Barbora Horáková Joly ist mit Annemarie Bulla (Ausstattung) und Sergio Verde (Video) offenbar ganz damit beschäftigt gewesen, zarte, klare Bilder zu finden. Ellens Züge verschwimmen auf der Videoleinwand, ihre Umgebung tritt ihr mit unscharfen Masken entgegen oder auch in grotesken Kostümen und in grotesken Klamaukszenen.

Über weite Strecken ist das die Geschichte der ungeheuren Verunsicherung, wenn man auf der Welt zur Fremden wird. Die Klagen der Angehörigen sind demgegenüber bescheiden. Was heißt es schon, von der Mutter nicht erkannt zu werden, wenn die Mutter in dem Alptraum lebt, nicht zu wissen, was das für Leute sind.

Auch dies wird im glänzend informierten Libretto deutlich, das Juliana Spahr gemeinsam mit Thomalla geschrieben hat. Joshua Clover hat die Arien getextet (Thomalla arbeitet schon lange in den USA, gesungen wird auf Englisch). Orientiert haben sich Spahr und Thomalla an Goethes „Wahlverwandtschaften“, merkwürdig, aber eine reizvolle Anreicherung der reinen Familienkonstellation. Man kann dabei an die mit „Dark Fall“ durchaus verwandte Oper „Blühen“ von Vito Žuraj denken (2023 in Frankfurt uraufgeführt). Ellen hat eine Tochter, Ilse, und einen zweiten Mann, Curtis, im Laufe der sofort schon als Irritation präsenten Demenz kommt sie mit Curtis’ altem Freund Owen zusammen.

So einfach und zugänglich wie die Bilder ist über weite Strecken die Musik. Hans Thomalla hat in Mannheim vor ein paar Jahren schon das Jugendlichen-Stück „Dark Spring“ gezeigt, das mit „Dark Fall“ ein Diptychon bildet. Auch in „Dark Fall“ gibt es populäre, fast musicalhafte Elemente – zumal wenn Ellen halluziniert und das Publikum mit ihr zusammen –, die durch die leichte Stimmenverstärkung betont werden. Das Kammerorchester ist gleichwohl klassisch komplett (neben Streichern, Blech- und Holzbläsern eine Saxofonistin, ein Gitarrist, ein Pianist, ein Keyboarder). Alan Pierson hält souverän zusammen, was sich auch anschmiegt, wie Ellen es gerne täte, wenn sie wüsste, an wen. Ebenso klassisch wirkt die Oper in der Form, mit Ensembles und Arien. Obwohl jede Figur solche innig reflektierende Nummern bekommt, steht im Vordergrund das Beziehungsreiche. Die Perspektive bleibt bei Ellen. Lediglich in wenigen Bildern und Situationen im Hintergrund sieht man sie als Demente von außen.

Gegen Ende nimmt die ohnehin pulsierende musikalische Spannung deutlich zu. Sie ist geprägt durch Ellens Schwierigkeiten und Versuche, noch mit Zahlen zurande zu kommen, woran sie auch als erstes merkt, dass da etwas nicht stimmen kann. Bis Estelle Kruger schließlich singt, dass sie den Satz nicht weitersingen will, und bis sie ihn doch singt. Einmal gesungen, singt sie ihn immer wieder. „Ich falle in Stücke.“

Die intime Schlosstheaterbühne zeigt ein weißes, aufklappbares Häuschen, auf Gleisen. Alles steht still und ist doch wie in Bewegung. Trotz des eindeutigen, sympathisierenden Fokus auf Ellen ein auch insgesamt zutiefst menschliches Quartett: Der Tenor Uwe Eikötter als überforderter Curtis, der Bariton Thomas Berau als entspannter Owen, Mezzosopranistin Lila Chrisp als lebensvolle Ilse. Zwei Frauen erzählen im Video vorher und zwischendurch von der Demenz ihrer Eltern beziehungsweise ihres Bruders. Das wäre nicht nötig, aber es gehört zur Sicherheit des 110-Minüters, dass es trotzdem eine starke zusätzliche Beglaubigung ist.

Ungeheuerlicher Zufall, dass während der Premiere in der ersten Reihe ein medizinischer Notfall eintrat, so dass die Vorstellung in diesem Saal, wo alle alles immer mitbekommen, unterbrochen wurde. Niemand sagte ein Wort, jeder bemühte sich offenbar, das Richtige zu tun, die einen, indem sie hineilten, die anderen, indem sie Platz machten und stillhielten. Auch am Ende von „Dark Fall“ wird ausgesprochen, dass wir einander nicht helfen können, aber versuchen sollten wir es doch.

Nationaltheater Mannheim im Schlosstheater Schwetzingen: 2., 3., 6., 8. März. www.nationaltheater-mannheim.de

Auch interessant

Kommentare