1. Startseite
  2. Kultur
  3. Theater

„Der Traumgörge“ an der Oper Frankfurt – Die einen und alle anderen

KommentareDrucken

Görge ist in Gedanken, im Dorf aber wollen sie fröhlich sein. Vorne AJ Glueckert als Titelheld, den Grete, Magdalena Hinterdobler, mitziehen will.
Görge ist in Gedanken, im Dorf aber wollen sie fröhlich sein. Vorne AJ Glueckert als Titelheld, den Grete, Magdalena Hinterdobler, mitziehen will. Foto: Barbara Aumüller © Barbara Aumüller

Die Oper Frankfurt zeigt Alexander Zemlinskys Märchen „Der Traumgörge“ als Außenseitergeschichte angesichts eines Mobs in Pogromstimmung. Eine bedeutende Ausgrabung, ein großer Abend, zeitlos, aber aktuell.

Zu dieser außergewöhnlichen Opernausgrabung gehört eine versonnene Musik, die blüht und doch schweigen möchte, eine Musik, die vollen Ausdruck sucht für einen Menschen, der ernsthaft introvertiert ist. Das ist bereits das erste Kunststück. Das zweite ist eine wunderliche vielschichtige Handlung, die in Frankfurt scheinbar schlicht, aber doch abgründig genug dargeboten wird. Der gereimte Text ist sehr schwach – was für eine Vorstellung, dem Komponisten hätte ein besserer Librettist zur Seite gestanden – und doch kann man sich vom symbolistischen Überschuss packen lassen.

Hieße „Der Traumgörge“ lediglich „Traumgörge“, hätte der Titel nicht die unter Theaterleuten als fatal geltenden 13 Buchstaben. In Antony Beaumonts Zemlinsky-Biografie lernt man aber, dass Alexander Zemlinsky und Leo Feld gezielt aufs Ganze gingen, wenn man so will. Natürlich hat das nichts damit zu tun, dass es der Oper schlecht erging.

Die 1903/04 gestartete Zusammenarbeit zwischen Komponist und Librettisten war nicht einfach, verlief aber produktiv – man hat den raren, fabelhaften Fall, liest man bei Beaumont, dass der erste Akt schon komponiert war, bevor die beiden Männer sich einig waren, wie die Geschichte überhaupt weitergehen sollte. Dass in den beiden Akten sowie im Epilog jeweils ganz unterschiedliche literarische Quellen als Inspiration dienten, ist ebenfalls unorthodox. Die Folge ist gleichwohl eine Handlung und Musik, die nicht disparater sind, als es einem ambitionierten Musiktheaterwerk ansteht.

Gustav Mahler war es, der Zemlinsky zur Komposition einer neuen Oper motiviert hatte, die er als Direktor der Wiener Hofoper aufführen wollte. Sein Rücktritt 1907 zum Abschluss andauernder Querelen und Schikanen machte das zunichte. „Der Traumgörge“ wartete bis 1980 auf die Uraufführung, in Nürnberg. In Frankfurt entstand acht Jahre später eine Aufnahme mit dem HR-Sinfonierorchester (damals noch RSO Frankfurt) unter Gerd Albrecht. Die szenische Erstaufführung im Frankfurter Opernhaus hätte schon 2020 stattfinden sollen, Corona kam dazwischen.

Jetzt aber. Der Träumer und Märchenleser Görge soll in Akt I Grete heiraten. Das junge Paar ist zwiespältig, zumal der fidele, lebenszugewandte Hans wieder auftaucht. Görge hat Konzentrationsprobleme und die Vision einer Prinzessin. Alle Welt lacht über ihn. Ihm reicht’s. In Akt II wohnt Görge in einem anderen, noch viel unangenehmeren Dorf. Er ist ziemlich heruntergekommen. Nun soll er Sprecher eines Dorfmobs werden, der den Aufstand probt. In Pogromstimmung hat er es allerdings vorerst auf Gertraud abgesehen, die als Hexe gilt. Da macht Görge nicht mit, stellt sich den Radaubrüdern entgegen und geht mit Gertraud seiner Wege.

Im Epilog sind Görge und Gertraud reich geworden und in Görges Heimat zurückgekehrt, wo sie wirtschaftlich weiter florieren und sich von der Dorfgemeinschaft feiern lassen können. Görge wird klar, dass Gertraud die Prinzessin aus Akt I ist. Ein Happy End, aber wie alles in dieser Geschichte auch vielschichtig und ambivalent: angefangen mit der Frage, ob die Prinzessin und Gertraud wirklich dieselbe Person sind, und noch nicht zu Ende mit der Frage, ob der Ausgang tatsächlich ein guter ist. Zum Beispiel: Hat sich Görge nun seine großen Träume erfüllen können oder sind die Träume bloß immer dünner und biederer geworden, bis es ihn froh macht, ein kleiner Dorfkönig zu sein?

Die Musik dazu ist von sinfonischer Größe, man hört aber nicht nur Mahler, sondern auch Wagner und Richard Strauss, vor allem hört man Zemlinsky, wie man ihn aus den späteren, bekannteren Opern kennt (etwa aus den Einaktern „Der Zwerg“ und „Eine florentinische Tragödie“). Das Orchester spielt eine von einer Begleitung weit entfernte Hauptrolle, was es zur ständigen Zurückhaltung zwingt, denn die Gesangspartien sind sehr anspruchsvoll. Vor allem Tenor Görge muss sich die Seele aus dem Leib singen in praktisch ununterbrochener Präsenz und hoher Lage.

Es ist aufregend, wie Zemlinsky zugleich aufdreht und doch auch thematisiert, dass Görge seine Ruhe haben will. Erst recht in Frankfurt, muss man dazu sagen, wo AJ Glueckert der Titelheld ist: weiß Gott kein Königskind, auch wenn es insgesamt naheliegt, an Humperdinck zu denken, sondern ein bis ins Verdrossene hinein scheuer und in sich zurückgezogener Mann mittleren Alters. Seine zum Mantra werdende Idee, dass die Märchen leben, leben, leben sollen, hat nichts Kindliches, sondern sofort einen Zug ins Verzweifelte. Selbst für einen Tenor, der so spielend in die Höhe kommt wie Glueckert – Frankfurter Ensemblemitglied wie die meisten hier –, ist das brutal. Er bewältigt die Langstrecke mehr als souverän, er schafft es, immer noch Wohlklang herzustellen, es ist kaum zu glauben, und doch müsste noch mehr Strahl- und Durchschlagskraft her. Das Orchester unter dem Dirigenten Markus Poschner umwallt ihn zärtlich mit einem komplexen Gespinst und immenser Finesse. Mag der Text wolkig sein, die Musik ist kristallklar.

Ambivalenzen: In Frankfurt haben sich Regisseur Tilmann Köhler und Dirigent Poschner dazu entschieden, Görges Traumprinzessin und seine spätere Frau Gertraud von derselben Sopranistin singen zu lassen: Zuzana Marková, deren feines Vibrato und einen Hauch tragisch-dunkel timbrierte Stimme zauberisch genug sind, um alles vorstellbar zu machen. Zemlinsky – und den Zeitgenossen wäre es bei einer Aufführung wohl ebenso gegangen – dachte an Alma Mahler-Werfel dabei, der freilich, das war allen Beteiligten bewusst, der Gertraudische Altruismus völlig abging.

Görge bildet sich in Frankfurt also nicht nur ein, seine Traumfrau gefunden zu haben. An dieser Stelle ist das Happy End sogar grandios, der Leser und seine ebenfalls lesende Frau auf einer güldenen Decke im Abendsonnenschein. Andererseits lässt Köhler die huldigende Dorfgemeinschaft so entschlossen auftreten, dass der Jubel fast so aggressiv wirkt wie die anfängliche Verachtung. Trotz solcher Setzungen hält sich die Inszenierung aber vieles offen. Sie ist zart, sie ist dezent.

Karoly Risz zeigt einen reinlichen Bühnenkasten aus hellen Holzlatten, in die hintere Wand wurden windschiefe Häuschen gesägt, die wie schwarze Scherenschnitte aussehen, aber Ein- und Ausgänge sind. Für das biedere Akt-I-Dorf hat Susanne Uhl schwarz-weiße Trachten entworfen, für das derbe Akt-II-Dorf bunte Arbeitsklamotten. Jan Hartmann illuminiert die Bretterbude mit fabelhaften Schattenspielen. Die von der Dorfgemeinschaft bedrohte Gertraud wird als Schatten erst recht zu Jesus am Kreuz, ihr Blumenkranz die Dornenkrone. Das ist nicht die Macht der Fantasie, das ist die Macht alter Bilder. Man erkennt Dinge, von denen man nicht wusste, wie vertraut sie einem sind.

Im Großen ist das die Geschichte von den beiden (hier also wirklich ein fixes Paar) und den vielen anderen. Diese werden repräsentiert durch den agilen Chor (unter der Leitung von Tilman Michael), der als Mob selten laut wird. Die Gesichter sind fast Fratzen und doch – viel schlimmer – normale, verschiedene Leute, wie man sie morgens in der U-Bahn sieht. Lächeln sie breit oder fletschen sie die Zähne?

Zu den vielen gehört das zweite Paar, Hans und Grete, denen die Sopranistin Magdalena Hinterdobler und der Bariton Liviu Holender resolute Stimmen und Statur verleihen. Eine sehr starke Szene: Wie Hans angesichts von Görges völlig harmlosen Fantastereien sogar der Spott ausgeht vor lauter abgrundtiefer Verständnislosigkeit, die sich in seinem Gesicht widerspiegelt. Es kann gefährlich sein, wenn Menschen überhaupt nichts mehr verstehen, das macht nervös und böse. Groß und fit das weitere sängerische Aufgebot, herausragend dabei Iain MacNeil als aufrührerischer Kaspar in Akt II, dessen athletische Präsenz kaum weniger imposant ist als sein blendend geführter Bariton. Umso schwieriger übrigens, sich an dieser Stelle vorzustellen, warum er den stillen Görge für seine Revoluzzerpläne brauchen könnte.

Drei Stunden insgesamt, eine lange, glühende und verglühende Schlusssequenz, das Publikum schon beeindruckt, aber auch erschöpft. Mit diesem Abend muss man sich auseinandersetzen.

Oper Frankfurt: 29. Februar, 9., 13., 16., 23., 31. März. www.oper-frankfurt.de

Auch interessant

Kommentare