Porporas Zyklopen-Oper Polifemo spektakulär in Straßburg

Liebesfilm mit Gruseleffekt

Französische Erstaufführung von Nicola Porporas „Polifemo“ an der Opéra national du Rhin in Straßburg

Von Joachim Lange

(Straßburg, 5. Februar 2024) Die Opéra national du Rhin ist in Straßburg, Mühlhausen und Colmar zu Hause. Ein mobiles Stagioneunternehmen für eine ganze Kulturregion. Die zieht offenbar auch soviel deutsches Publikum an, dass es erfreulicherweise nicht nur französische, sondern auch deutsche Übertitel gibt.
Die französische Erstaufführung von Nicola Porporas opera seria „Polifemo“ ist nicht nur eine Folge (und ein Beleg) des Barockbooms der letzten Jahrzehnte, der mit dem Aufstieg der Countertentöre eine Symbiose eingegangen ist. Sie ruft eine Periode der Operngeschichte in Erinnerung, die selbst Thrillerqualitäten hat.

Der Neapolitaner Nicola Porpora (1686-1768) und der Hallenser (bzw. dann doch auch Engländer) Georg Friedrich Händel (1685-1759) waren nicht nur Altersgenossen, sondern kamen sich in London auch in erbitterter Konkurrenz (zu)nahe. Im Jahre 1735, als Porporas „Polifemo“ uraufgeführt wurde, kamen auch Händels „Ariodante“ und seine Zauberinnenoper „Alcina“ auf den Markt. Zwei Werke, die heute zu den populärsten Händelopern im Repertoire zählen. In London konkurrierten Opernunternehmen hart um zahlendes Publikum. Was soweit ging, dass sie sich gegenseitig in den Ruin trieben. Was sich damals in London abgespielt haben muss, ist allemal selbst opern- oder filmreif.

Händel beherrschte mit seinen Opern und seinem Theaterunternehmen das Musikleben Londons, bis ihm Porpora 1733 mit der Opera of the Nobility Konkurrenz machte. Händel war immer um die Stars seiner Zeit bemüht und komponierte mitunter vor allem den Kastraten und den Soprandiven direkt in ihre Kehlen. Genau in dem Punkt aber konnte Porpora mithalten. Er hatte nicht nur einen vorzüglichen Ruf als Gesangslehrer, sondern deshalb eben auch einen heißen Draht zu den Gefeierten der Zunft. Wenn man sich vorstellt, dass bei der „Polifemo“-Uraufführung am 1. Februar 1735 im King’ Theater in the Haymarket in Anwesenheit des Königs die Kastraten-Superstars Farinelli als Aci und Senensino als Ulisse auftraten, kann man sich die Reaktion vorstellen, die das bei Händel ausgelöst haben mag.

Die Geschichte des „Polifemo“ ist eine selbst heute noch allseits bekannte mystische Lovestory mit Gruseleffekt aus dem wuchernden literarischen Nachleben des Odysseus. Als der und seine Männer auf dem Rückweg von Troja ins heimatliche Ithaka in Sizilien an Land gehen, wird der Held zum Objekt der Begierde der Nymphe Calypso, während es der heimische Fischer Aci der Nymphe Galatea angetan hat. Für den dramatischen Zündstoff der Handlung, die vor allem in Gestalt einer für die opera seria jener Zeit typischen Perlenkette virtuoser Arien für die Protagonisten daherkommt, sorgt der einäugige Zyklop Polifemo, der selbst (tatsächlich nur) ein Auge auf Galatea geworfen hat.

Es bedarf der sagenhaften List des Odysseus, der Mithilfe der ambitionierten potentiellen Liebhaberinnen und letztlich sogar des Eingreifens von Jupiter persönlich, um den Zyklopen zu blenden, damit auszuschalten und ein einträchtiges lieto fine der letztlich vereinten Paare zu zelebrieren. Wie es im Falle von Odysseus weitergeht, steht auf einem anderen Blatt. Das Finale ist ein Beispiel für Tucholskys „Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt.“

In ihrer Inszenierung machen Bruno Ravella (Regie) und Annemarie Woods (Ausstattung) die mythologische Handlung tatsächlich zur Vorlage für ein Filmset. Mit dazugehörigem Filmplakat im hollywoodesken Sandalenfilm-Stil. Auf der leergeräumten Bühne lässt sich der Regisseur (der solide Bass José Coca Loza übernimmt dann im Fellkostüm die Rolle des Zyklopen) bedienen. Wenn die Stars der Produktion eintreffen, bedienen die jedes Diven-Klischee. Und zwar in weiblicher und männlicher Ausführung. Bis der Dreh beginnt ist der Kulissenmaler auf einer fahrbaren Riesenleiter bis zur letzten Minute dabei, an den Prospekten herumzutupfen.

Die Idee funktioniert den Abend über gut, erlaubt sie doch zwischendurch einen entspannten Blick von außen auf den Wettstreit der Stimmen um den größten Eindruck. Die Damen beginnen noch relativ verhalten, wobei Madison Nonoa als Galatea nicht nur von Anfang an mit ihren blitzsauberen hohen Tönen, sondern bald auch mit ihrer sinnlichen Ausstrahlung verführerische Statur gewinnt. Delphine Galou behält ihre Calipso dagegen eine Spur zu kontrolliert im Griff. Schon mit Blick auf die legendäre Uraufführungsbesetzung verwundert es nicht, dass die beiden Counter an diesem Abend vokal das Rennen machen.

In der Senesino-Rolle des Ulisse liefert der in Deutschland noch nicht so bekannte Franzose Paul-Antoine Bénos-Djian mit seiner kraftvoll dunkel gefärbten Stimme einen überzeugenden (mit Waschbrettbauchpanzer ironisch aufgerüsteten) Ulisse. Counter-Star Franco Fagioli ist hier zwar „nur“ der Kulissenmaler bzw. Hirte Aci, aber in dieser für Farinelli komponierten Rolle von Porpora mit seinen Arien (besonders: Nr. 59 „Alto Giove, è tua grazia“ und Nr. 63 „Senti il Nato“) und einem hinreißenden Duett mit Galatea per se bevorzugt. Für Fagioli eine Steilvorlage, die er beglückend nutzt, um seine technisch imponierende, obendrein wohlklingende Brillanz vorzuführen.

Für szenischen Witz zwischen dem im Ganzen auf einem (verglichen mit den dramatischeren Abwechslungen der Händelopern aus der gleichen Zeit) heute etwas gleichförmig wirkenden emotionalen Erregungsniveau der aufeinanderfolgenden Arien (allein Ulisse, Aci und Galatea habe je fünf) sorgt das Spiel mit den Kulissen. Wenn die ziemlich ansehnliche Truppe des Ulisse das erste Mal dem Zyklopen begegnet, macht ein Gulliver-Trick einfach Spaß: die Jungs im Hintergrund sind vor dem lebensgroßen Monster auf Kleinstpuppen-Niveau geschrumpft. Wenn der Zyklop dann in die Höhle lugt, sieht man in einem umgekehrten Effekt nur dessen Riesenkopf (und Auge) oder die Pranke. Bei der Auseinandersetzung zwischen den Liebespaaren (denen Alyssa Hanshaw als Nerea assistiert) mit dem Zyklopen scheint gegen Ende auch das an Konflikten durch, was heutzutage aus der Filmbranche nach außen dringt. Aber es bleibt im Rahmen und überfordert den der eigentlichen Handlung nicht.

Im Graben sorgen die Dirigentin Emmanuelle Haïm und die Musiker des Concert d’Astrée durchweg für eine einschmeichelnde Begleitung der Arienfolge, bei der man sich mitunter auch ein etwas pointierteres Auftrumpfen hätte vorstellen können. Musikalisch fügte sich diese Ausgrabung eines barocken Meisterwerkes in das mit über 1140 Plätzen gar nicht so kleine neoklassizistische Straßburger Theater. Kaum vorstellbar, dass es hier tatsächlich Pläne geben soll, diesen Zuschauerraum durch Betonmoderne zu ersetzen.

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