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St.Gallen: ERNANI, 20.01.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Ernani

Copyright aller Bilder: Edyta Dufaj, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

Verdis glutvolle fünfte Oper in einer Neuproduktion

Oper in vier Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Libretto: Francesco Maria Piave, nach Victor Hugos Drama "Hernani" | Uraufführung: 9. März 1844 in Venedig | Aufführungen in St.Gallen: 20.1. | 28.1. | 31.1. | 4.2. | 9.2. | 19.2. | 22.2. | 3.3. | 10.3. | 12.3. | 21.3. | 19.4.2024

Kritik: 

GEFANGEN IM KNÄUEL DER METAPHERN

Ach, es wäre so einfach, die Handlung von Verdis ERNANI zu erzählen. Im Begleitheft meiner Schallplattenaufnahme (Price, Bergonzi unter der Leitung von Thomas Schippers) fasst To Burg diese mit ironischem Augenzwinkern so zusammen: Edler"Bandit" will seinen ermordeten Vater rächen - König wird Kaiser, entsagt seiner Liebe - Starrsinniger Alter zwingt Liebespaar zum Selbstmord. Der Regisseurin dieser in Zusammenarbeit mit Opera Ballet Vlaanderen, Antwerpen/Gent entstandenen Produktion, Barbora Horáková, war die Handlung nach eigenen Aussagen zu kompliziert und zu fragmentarisch. Deshalb suchte sie nach einer neuen Lösung, um ein glaubwürdigeres Konzept zu erarbeiten. Und tatsächlich, auf dem Papier klang das überzeugend. Die Regisseurin wollte sich ganz auf den Titelhelden fokussieren, zeigt nun eine gebrochene Figur, einen total unsicheren, verängstigten Ernani, der offensichtlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (Krieg, Ermordung des Vaters, Unfähigkeit zu lieben), wenn nicht gar an zunehmender Schizophrenie leidet. Zur Seite stellte die Regisseurin dem Titelhelden eine zweite Figur, quasi eine Stimme aus seinem Innern. Dieses Alter Ego spricht verklausulierte, wunderbar poetische Texte, die Peter Verhelst extra für diese Produktion geschrieben hatte. Leider entschlüsselten sich mir die von Birgit Bücker wunderbar differenziert, mal heiser schreiend, dann wieder verführerisch und lockend flüsternd vorgetragenen Metaphern kaum. Irgendwie fand ich leider keinen plausiblen Ansatzpunkt, um die Schilderungen von rotierenden Sandsäulen, summenden Fliegen, Düften von Zitrus und rosa Pfeffer mit Ernanis seelischer Verfassung in irgendeine Verbindung zu bringen. Die, wenn auch kurz gehaltenen, Einwürfe dieses Alter Ego unterbrachen natürlich den Fluss der Musik immer wieder. Zwar ist Verdis ERNANI eine konventionell angelegte Nummernoper, mit traditioneller Abfolge von Kavatine und Kabaletta, Duetten, Terzetten, Ensembles mit effektvollen Chorfinali, die immer wieder zu Zwischenapplaus führen können (er war in dieser Premiere eher verhalten). Am schlimmsten war der Unterbruch im dritten Akt, genau an einer der spannungsgeladensten Stellen: Don Carlos tritt als frischgewählter Kaiser Karl V. aus der Kaisergruft in Aachen. Hier die Bühne dunkel werden zu lassen und Birgit Bücker einen Text (über Umkehr, Vergessen und das Ablegen alter Gewohnheiten) vom Bühnenrand aus rezitieren zu lassen, ist meines Erachtens ein Verbrechen gegen die Musik und deren Spannungsaufbau.

SENSIBILITÄT IN DER MUSIK

Es ist das grosse Verdienst aller Ausführenden, dass sie nach diesen Unterbrüchen immer wieder die musikalische Spannung erneut aufbauen und mit wunderbarer Sensibilität erfüllen können. Das Sinfonieorchester St.Gallen unter der ruhigen, unaufgeregten Leitung von Modestas Pitrenas spielt mit wunderbarer Feinfühligkeit. Modestas Pitrenas lässt sich nicht zu knalligen Effekten und vordergründiger Schmissigkeit verleiten, gibt den Sänger*innen genügend Raum und Zeit, um ihre Phrasen auszuführen; da ist nichts überhastet und keine Gefahr in eine Art von plakativ aufziehendem Bruitismus zu verfallen, zu dem der junge Verdi an gewissen Stellen durchaus noch neigte. Alle drei Interpreten der männlichen und die Interpretin der einzigen weiblichen Partie in der Oper überzeugten durch intensive Rollengestaltung und Charakterisierung ihrer vokal sehr anspruchsvollen Partien. Die Nebenrollen wurden aus der Masse heraus gesungen, erhielten kein eigenes Profil und somit auch keinen Namen, sie werden als Sopran Solo (Kali Hardwick), Tenor Solo (Sungjune Park) und Bass Solo ( Msimelelo Mbali) im Besetzungszettel aufgeführt.

Christopher Sokolowski ist ein überaus glaubwürdiger, intensiver Darsteller des Ernani. Er zeigt diesen von inneren Dämonen getriebenen, total verstörten jungen Mann mit eindringlicher, präsenter Körperlichkeit (er ist praktisch pausenlos auf der Bühne zu sehen). Sein einnehmend timbrierter Tenor klingt im Verlauf des Abends immer befreiter. Es ist überaus wohltuend, dass er an keiner Stelle forciert, sondern mit natürlicher, perfekter Stütze der Stimme und mit dynamisch fein abgestufter Tongebung die Rolle auszufüllen vermag. Mit ebenbürtiger Emphase überzeugen auch seine beiden Gegenspieler: Vincenzo Neri bleibt den herrlichen Kantilenen, den ungestümen Wutausbrüchen und der später als Kaiser ausgeübten Milde nichts an baritonaler Ausdruckskraft schuldig. Krystján Jóhannesson gibt einen kämpferischen de Silva, erfüllt die unnachgiebige Härte dieses Granden mit kernigem, kraftvoll intonierendem Bass. Der grossgewachsene Sänger ist eine beeindruckende (für die Rolle fast zu jugendlich anmutende) Erscheinung, angst- und respekteinflössend in seinem paramilitärischen Outfit. Sylvia D'Eramo gestaltet die Elvira mit sicher und schön timbrierter Sopranstimme; in der Auftrittskavatine und der nachfolgenden Kabaletta legt sie an einigen Stellen noch ein bisschen viel Druck auf ihre Stimmbänder, so dass ein etwas metallischer Schatten auf die Töne fällt. Doch später in den Ensembles und den Duetten und Terzetten klingt ihre Stimme immer befreiter. Ihr engagiertes Spiel lässt sie zur Sympathieträgerin der Oper werden.

Ein ganz grosses Lob gebührt dem Chor des Theaters St.Gallen und dem Opernchor St.Gallen, die ihre dankbaren Auftritte mit Verve und Perfektion zu singen vermögen und das Publikum zu Recht mitreissen (Einstudierung: Franz Obermair).

POESIE

Auch wenn ich mit den Texten von Peter Verhelst und den damit verbundenen Unterbrüchen im musikalischen Fluss so meine Mühe hatte, war die Inszenierung und insbesondere die Personenführung insgesamt sehr eindringlich; dank der spannenden Videoprojektionen von Tabea Rothfuchs und dem bezwingenden Lichtdesign von Stefan Billiger an manchen Stellen gar von berückender Poseie erfüllt. Die Ausstattung von Eva-Maria Van Acker ermöglichte abwechslungsreiche, imponierende Bilder auf der Bühne, mit ihren drei aus jeweils 16 Lichtquadraten zusammengesetzten grossen Quadraten, ihren (manchmal schmerzhaft in grellem Weiss blendenen) Leuchtröhren und den sich wie tektonische Platten verschiebenden Elementen auf der Bühne. Sogar das Bild mit der blauen und der roten Küche, in denen Elvira und Ernani durch de Silva getrennt gefangen gehalten wurden und nur die Seele Ernanis von einer Küche in die andere wandern konnte (und sich auch am Kühlschrank gütlich tat), hatte irgendwie was.

DIE ABGRÜNDE DES HERZENS

Das letzte Bild wurde von einem echt wirkenden, wie aus einer Körperwelten-Ausstellung stammenden, übergrossen Herzen dominiert. Es war unter Mithilfe von Kardiologen entstanden und konnte sogar pochen. De Silva versuchte am Ende in einem Kampf mit dem Riesenherzen dieses zum Stillstehen zu zwingen, vergeblich. Ist es das Herz Ernanis, in dem "der Hölle Rache" trotz seines Suizids weiterkocht, oder ist die Liebe, die vom Herzen ausgeht, auch durch den Tod nicht besiegbar?

Ja, es ist eine Inszenierung, die Fragen aufwirft, provoziert, zum Nachdenken anregt - also echtes Theater und nicht Kulinarik zum Zurücklehnen.

Inhalt:

Die zum Teil fiktive Handlung spielt in Aragon und in der Kaisergruft zu Aachen im Jahr 1519; geschichtlicher Hintergrund ist der Machtkampf zwischen dem Hause Habsburg und den Herzögen von Aragon. Für Verdi und Piave standen aber nicht die politischen Verhältnisse im Vordergrund, sie dienen lediglich als Hintergrundfolie für das persönliche Drama um Liebe und Ehre.

Die spanische Edeldame Elvira wird von drei Männern umworben: von ihrem Vormund, dem Granden de Silva, dem spanischen König Carlos (dem späteren Kaiser Karl V.) und dem Rebellen Ernani (welcher der aus der Verbannung heimlich zurückgekehrte Herzog Juan d'Aragon ist).

Ernani will Elvira aus dem Schloss de Silvas entführen, aber Carlos ist ebenfalls vor Ort. De Silva kommt hinzu und ist entsetzt, gleich zwei Eindringlinge bei seinem Mündel vorzufinden. Carlos gibt sich als König zu erkennen und “deckt” Ernani aus verachtendem Mitleid vor der Wut de Silvas, indem er ihn als “Boten” wegschickt.

Elvira glaubt nun, Ernani sei im Kampf der Rebellen gefallen und willigt zur Hochzeit mit de Silva ein. Zur Hochzeit erscheint ein Pilger (der verkleidete Ernani), dem de Silva Gastrecht gewährt. Das Gastrecht ist de Silva heilig, auch als sich Ernani zu erkennen gibt, liefert er ihn dem nun hinzugekommenen König Carlos nicht aus. Carlos nimmt sich Elvira stattdessen als Geisel. De Silva fordert nun aber Ernani zum Zweikampf. Ernani erklärt ihm, der König habe Elvira nicht nur als Geisel, sondern als Geliebte genommen. Daraufhin verbünden sich die beiden im Kampf gegen Carlos, wobei Silvas Rache nur aufgeschoben, nicht aufgehoben ist, denn Ernani übergibt de Silva sein Jagdhorn. Sobald de Silva den Ruf des Jagdhorns ertönen lasse, werde er, Ernani, sich selbst töten. Das schwört er!

König Carlos indes steht kurz davor, zum  Kaiser gewählt zu werden. In Erwartung dieser hohen politischen Verantwortung entsagt er seiner Liebe zu Elvira. Die Verschwörer de Silva und Ernani wollen in der Kaisergruft zu Aachen einen Anschlag auf Carlos verüben. Das Los für das Attentat fällt zu de Silvas grosser Enttäuschung auf Ernani. Selbst als de Silva ihm sein Pfand (das Horn) zurückgeben will, beharrt Ernani auf dem Los, da er damit die Ermordung seines Vaters durch Carlos' Vater rächen will. Carlos ist als Kaiser Karl V. gewählt worden. Seine erste Amtshandlung ist die Begnadigung der Rebellen, ja er gibt gar sein Einverständnis zur Hochzeit von Elvira und Ernani.

Hochzeitsfest in Aragon: Elvira und Ernani wollen endlich ihr Liebesglück besiegeln und geniessen. Aber da ertönt der Hornruf - Ernani weiss, was das bedeutet. Er muss seinen Schwur einlösen, da ist de Silva unerbittlich und taub gegenüber jedem Flehen Elviras. Ernani ersticht sich.

Werk:

ERNANI war Verdis fünfte Oper (nach OBERTO, dem Fiasko von UN GIORNO DI REGNO, NABUCCO und I LOMBARDI). Nach Verdis Erfolgen mit NABUCCO und I LOMBARDI war der Intendant des Teatro La Fenice auf den jungen Komponisten aufmerksam geworden und beauftragte ihn mit einer neuen Oper für das La Fenice. Verdi zog diverse Stoffe in Betracht: Die Geschichte von Catherine Howard (der fünften Frau von Heinrich VIII.), den König LEAR von Shakespeare, den bereits von Wagner vertonten RIENZI-Stoff und schliesslich Victor Hugos nie aufgeführtes Mammutdrama CROMWELL. Schliesslich einigte man sich auf Hugo, aber nicht auf den CROMWELL, sondern auf HERNANI. Hugos Schauspiel war 1830 uraufgeführt worden, entstand ganz in der theatralischen Aufbruchsstimmung der Romantik: Man wollte weg vom Theater des Ancien Régime, weg von steifen, klassischen Helden der Antike, weg von geschminkten Marionetten. Man hatte Lust auf blutrünstige Moritaten, auf leidenschaftliche Liebe, auf düstere, grelle Stoffe. So wurde Victor Hugo der Dichter der Stunde, der krasse Wirklichkeit auf die Bühne brachte. Das Publikum dieser Zeit war durchaus bereit, sich auf solche Stoffe einzulassen. Aus heutiger Sicht werden solche Libretti und Dramen oft lächerlich gemacht. Hans Kühner spricht in seiner Verdi-Monographie von “vier Akten, in denen man vergebens Andeutungen logischer Zusammenhänge und glaubhafter Charakterdeutungen sucht. Und was Tragödie scheint, entbehrt nicht des Beigeschmacks des Grotesken … verstaubte Emphase”.

Aber Verdi und sein Publikum liessen sich vom Stoff begeistern und berühren. Der Stoff hatte nämlich genau die Attribute, die Verdi von seinen Libretti erwartete: Kühn bis zum Äussersten und musikalisch in eindringlichen, kompakten und dramatisch zugespitzten Szenen umsetzbar. Genau diese konzentrierten Szenen hat ihm Piave geliefert und Verdi erfüllte sie mit glut- und effektvoll knalliger Musik, noch immer etwas terzen- und sextenselig im Stil von Donizetti und Bellini, allerdings geprägt von einer lodernden Kraft. Die Uraufführung war - trotz nicht gerade erstklassiger Sängerbesetzung - ein ziemlicher Erfolg. Donizetti selbst setzte eine Produktion unter seiner Leitung in Wien durch. So wurde ERNANI die erste Verdi-Oper, die seinen Namen international bekannt machte. In Paris protestierte zwar Victor Hugo gegen die “Verunglimpfung” seines Dramas, so dass Verdis Oper dort unter einem anderen Titel (IL PROSCRITTO) aufgeführt werden musste. Nach Wien, Paris und London trat ERNANI seinen Siegeszug um die Welt an, war die erste Oper die in San Francisco aufgeführt wurde, selbst eine Aufführung auf den Phillipinen im 19. Jahrhundert ist überliefert. Und noch immer taucht ERNANI auf den grossen und kleineren Bühnen auf und erfreut mit seinen zündenen Melodien das Publikum, während Victor Hugos eigentlich revolutionäres Drama, das die umstürzlerischen Bewegungen zur Zerschlagung des Ancien Régime unterstützte, zusehends in Vergessenheit gerät.

Vor beinahe 40 Jahren besuchte ich eine Aufführung von ERNANI in St.Gallen:

13. Juni 1987

Musikalische Leitung: Carlo Franci, Inszenierung: Paolo Trevisi

Ernani: Bruno Sebastian, Carlo: Lorenzo Saccomani, de Silva: Konstantin Sfiris, Elvira: Maria Petrova-Popova

Karten

 

 

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