Eine triste Bahnhofshalle und darin zwei von der Gesellschaft ausgeschlossene Jugendliche, die ums Überleben kämpfen und von einer besseren Zukunft träumen – Regisseur Philipp Krenn verlegt Péter EötvösBallad opera Schlaflos, die 2021 ihre Uraufführung erlebte und nun erstmals in einer deutschsprachigen Übersetzung zu hören ist, von der im Libretto besungenen norwegischen Küste in eine deutsche Großstadt in den 1980er Jahren.

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Tetiana Miyus (Alida) und Mario Lerchenberger (Asle)
© Andreas J. Etter

Die Oper basiert auf dem Roman Trilogie aus der Feder von Jon Fosse und erzählt die Geschichte von Asle und Alida, die minderjährig und obdachlos sind, aber gemeinsam ein Kind erwarten. Nachdem sie aus dem Bootshaus, das sie bewohnten, geworfen werden, sind sie auf der Suche nach einer neuen Unterkunft; dabei stoßen sie jedoch überall auf Ablehnung. Zunehmend verzweifelt sinnt Asle auf Rache und tötet drei Menschen, die ihn und Alida abgewiesen haben, bevor er schließlich in einem Akt der Selbstjustiz von Fischern getötet wird. Alida und das Baby kehren in ihr Heimatdorf zurück und Jahre später erinnert sie sich beim Anblick des Meeres an ihre Vergangenheit und die unvergessliche Liebe zu Asle. Sie nimmt sich das Leben, um wieder mit ihm vereint zu sein.

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Tetiana Miyus (Alida)
© Andreas J. Etter

Dass der Regisseur die zwei norwegischen Orte durch einen einzigen deutschen Bahnhof ersetzt, funktioniert über weite Strecken äußerst gut – wenn sich auch Einiges mit dem Libretto spießt – und gibt der Geschichte eine bedrückende Aktualität. Spannend wird die finale Szene gelöst, denn Alida blickt in dieser Interpretation nicht als gealterte Frau auf ihr Leben zurück, sondern findet sich in der gleichen Situation wie am Anfang des Abends wieder. Waren die schrecklichen Erlebnisse nur die Halluzinationen eines Bad Trips in Folge von zu viel Heroin oder doch eine düstere Vorahnung? Diese Entscheidung bleibt den Zusehenden selbst überlassen.

Nicht nur in der Inszenierung schließt sich in der letzten Szene ein Kreis, sondern auch in der Musik spiegelt das Finale den Beginn wider: Ëotvös hat sein Werk nämlich auf den zwölf chromatischen Grundtönen aufgebaut, in zwölf Szenen wurden also bereits alle Halbtöne einer Oktave durchlaufen, um jeder Szene eine eigene, unverwechselbare Charakteristik und Stimmung zu verleihen. Im Monolog von Alida in der dreizehnten und finalen Szene kehrt die Musik schließlich wieder zu h zurück – der Blick auf das Meer sei laut Komponist dabei der verbindende Faktor.

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Daeho Kim (Mann in Schwarz), Mario Lerchenberger (Asle) und Felix Heuser (Gastwirt)
© Andreas J. Etter

Unter der musikalischen Leitung von Vassilis Christopoulos boten die Grazer Philharmoniker eine durch Akkuratesse und Klangschönheit bestechende Interpretation von Eötvös’ Musik, wodurch eine soghafte Wirkung entfacht und die Gefühlswelten der Charaktere packend nachgezeichnet wurden. In fein differenzierten Farbschattierungen funkelte es da aus dem Graben, als Alida und Asle von der Zukunft träumen und spröde distanziert wurde der unnachgiebigen Außenwelt Klang verliehen. Assoziationen zur klassischen griechischen Tragödie und deren die Handlung von außen kommentierenden Chor weckte das doppelte Vokalterzett, das zwar kein Teil der Handlung ist, aber wie in rauschhaften Träumen mit Alida kommuniziert. Eine wunderbare Leistung lieferten in dieser Funktion die sechs Damen des Chors ab, deren Stimmen herrlich entrückt emporschwebten.

Das zentrale Paar des Abends wurde von Tetiana Miyus und Mario Lerchenberger verkörpert und beide liefen bei dieser Premiere zur absoluten Hochform auf. Darstellerisch wurde großes dramatisches Kino geboten, man konnte gar nicht anders, als mit den beiden Charakteren mitzufiebern – selbst wenn sie moralisch mehr als zweifelhafte Taten begehen. Lerchenberger gestaltete den Asle mit besonders in der Höhe strahlendem Tenor und beeindruckte dabei stets mit großer Wortdeutlichkeit, eleganten Phrasierungen und vielschichtigen Klangfarben, die den Gemütszustand der Figur greifbar werden ließen. Die Rolle der Alida wurde von Miyus mit ergreifender Verzweiflung ausgestattet, sie ließ ihren Sopran geschmeidig durch die Partie strömen, verdeutlichte die phasenweise aufflackernde Hoffnung mit warmen Schattierungen in der Stimme und kehrte dann wieder zu emotionsgeladenem matten Schimmern zurück.

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Tetiana Miyus (Alida) und Mario Lerchenberger (Asle)
© Andreas J. Etter

Die Figuren, denen Alida und Asle begegnen, bleiben zwar im Libretto blasse Schablonen – so tragen sie auch keine Namen, sondern werden archetypisch bezeichnet – wurden aber dank der Sänger dennoch mit Leben und Persönlichkeit gefüllt. Da machte etwa Daeho Kim den Mann in Schwarz mit viel Bühnenpräsenz und dunklem Bass zu einer zwielichtigen Schlüsselfigur; Iris Vermillion verlieh ihrer Rolle als alte Frau kühl timbrierte Herzlosigkeit und Tetiana Zhuravel arbeitete den Kontrast zwischen stimmlicher Lieblichkeit und darstellerischer Boshaftigkeit detailliert heraus.

Zeitgenössische Oper ist zwar (leider) selten ein Publikumsmagnet, aber diese Produktion von Péter Eötvös Schlaflos an der Oper Graz hat sich zweifellos viel Aufmerksamkeit verdient, denn einerseits erzählt das Werk eine ebenso berührende wie zeitlose Geschichte und andererseits entwickelt die mystisch schimmernde Klangsprache eine starke Sogwirkung.

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