Vergiftete Macht – Verdis „Don Carlo“ in der Mailänder Scala

Teatro alla Scala/DON CARLO/Foto: Brescia und Amisano ©Teatro alla Scala

Die Mailänder Scala ist eine Welt-Oper, vergleichbar allenfalls mit der Pariser Opera Bastille, der Londoner Royal Opera Covent Garden, der Wiener Staatsoper oder der New Yorker Metropolitan Opera. Große Namen, eher konventionelle Inszenierungen und ein im besten Sinne klassisches Stück: Verdis „Don Carlo“ nach Schillers Ideendrama „Don Carlos“ eröffnete am 7. Dezember 2023 die Saison 2023/24 und war zu Preisen von bis zu 3.200 € für die Premiere schnell komplett ausverkauft. Am 19.10.2023 kauften wir Karten für die Derniere am 2. Januar 2024, weil wir Preisaufschläge von bis zu 500 € pro Karte mit Anna Netrebko als Elisabeth nicht bezahlen wollten. (Gesehene Vorstellung: Derniere am 2. Januar 2024)

 

 

Die Eröffnungspremieren der Scala am 7. Dezember eines jeden Jahres stehen unter dem Motto: “Potere avvelenato“, „Vergiftete Macht“, und nach „Macbeth“ (2021) und „Boris Godunov“ (2022) stellte Intendant Dominique Meyer 2023 Verdis „Don Carlo“ in diese Reihe. Es versteht sich von selbst, dass die Scala die prominentesten Stars aufbietet, die auf dem Markt sind. Es waren die Primadonnen Anna Netrebko (bzw. Maria José Siri am 2. Januar 2024) als Elisabetta und Elina Garanća (bzw. Veronica Simeoni am 2. Januar 2024) als Eboli. Dazu kamen Francesco Meli als Don Carlo, Luca Salsi als Marquese Posa, Michele Pertusi als Filippo II. sowie Jongmin Park als Großinquisitor.

„Don Carlos“ ist Verdis längste und politischste Oper. Nach Schillers Ideendrama „Don Carlos“ schrieben Joséph Méry und Camille du Locle das Libretto als Grand Opéra für die Pariser Oper in einer fünfaktigen Fassung in französischer Sprache. Nach der Premiere am 11. März 1867 in Paris folgten nur 43 Vorstellungen. In der Mailänder Fassung, die Verdi am 10. Januar 1884 an der Mailänder Scala uraufgeführt hat, strich er den ersten Akt und änderte den Schluss, um die Handlung mehr auf das Politische zu fokussieren.

Teatro alla Scala/DON CARLO/Foto: Brescia und Amisano ©Teatro alla Scala

Im Kloster San Giusto beginnt mit dem unfassbar tiefen und volltönenden Gesang eines Mönchs (Jongmin Park) das Verhängnis. Don Carlos, Sohn des spanischen Königs Philipp II., der nach dem Tod des Habsburgerkaisers Karls V. den spanischen Königsthron übernommen hatte, beklagt sich bei seinem Freund Marquese di Posa, dass sein Vater im Rahmen der Beendigung des langen Krieges zwischen Spanien und Frankreich als Pfand des Friedens die französische Prinzessin Elisabeth von Valois geheiratet hat, die eigentlich ihm, seinem Sohn, versprochen war. Der aufgeklärte Idealist und Freigeist Posa rät Carlos, seiner Liebe zu entsagen und sich für das vom katholischen Spanien unterdrückte protestantische Flandern zu engagieren.

Im Garten der Königin entfaltet sich das Eifersuchtsdrama. Das frivole „Schleierlied“ der Prinzessin Eboli schafft spanisch-maurisches Lokalkolorit, vier Hofzwerge könnten einem Bild von Velazquez entsprungen sein und tanzen mit der Eboli und einigen Hofdamen eine Seguidilla. Posa überbringt Elisabeth einen Brief Carlos´ mit der Bitte um ein Treffen. Elisabeth gewährt die Bitte und weist den Prinzen ab, sie sei jetzt seine Mutter. Der Marquese di Posa bittet König Philipp, Flandern Gedankenfreiheit, konkret Religionsfreiheit, zu gewähren. Er wirft ihm vor, mit seiner autokratischen Politik nur Friedhofsruhe zu erzwingen. König Philipp, von Posa trotz dessen revolutionärer Ideen sehr eingenommen, warnt diesen vor dem Großinquisitor.

Die Ketzerverbrennung in der Autodafé-Szene am Ende des zweiten Akts, eine der größten Chorszenen Verdis mit einer enormen dramatischen Steigerung, ist pure Machtdemonstration. Der Eklat zwischen dem Infanten und seinem Vater vor dem versammelten Volk, der in Carlos hohem h gipfelt, ist ein Höhepunkt in Verdis Schaffen, der nur noch von Massenszenen in „Aida“ und „Otello“ übertroffen wird. Der vielfach geteilte Chor der Mailänder Scala unter der Leitung von Alberto Malazzi agiert als Volksgruppen, vor allem mit sehr vielen tiefen Männerstimmen als Mönchschor. Mit großem Aufwand wird König Philipp II. mit den Insignien seiner Macht bekleidet. Einige Ketzer werden vorgeführt. Sechs flandrische Gesandte bitten König Philipp vergebens um Religionsfreiheit und Unabhängigkeit unter der Regentschaft des Infanten, der sich mit seinem Schwert als ihr Anführer gegen seinen eigenen Vater stellt. Der Vater lehnt brüsk ab und ruft Wachen, den Prinzen zu entwaffnen, aber niemand rührt sich.

Nur Posa, im Loyalitätskonflikt zwischen dem König und seinem Freund Carlo, rettet die Situation, indem er den Prinzen entwaffnet. Er verrät seinen Freund wegen der Staatsräson, opfert sein Leben allerdings später, um Carlo vor der Exekution zu retten und ihm das Schicksal Flanderns anzuvertrauen. Die flandrischen Gesandten und der Infant Carlo werden abgeführt, Posa vom König mit Carlos Schwert zum Herzog geschlagen. Vor goldenem Hintergrund stehen am Schluss der Szene in goldenen Gewändern König und Königin, darüber in Purpur der Großinquisitor. Die Ketzer werden in loderndem Feuer verbrannt, dazu jubelt der Chor, und die „Stimme vom Himmel“ preist das Ende der Leiden in Gott. Deutlicher kann man die brutale Durchsetzung der Staatsmacht, eher der Macht der Kirche, kaum illustrieren.

Der Rest ist Abgesang: König Philip beklagt, dass Elisabeth ihn nie geliebt habe, die Prinzessin Eboli verflucht ihre Schönheit und bekennt, sie sei König Philips Konkubine gewesen, liebe aber Don Carlo und wolle ihn retten, Posa wird auf Wunsch des Großinquisitors im Gefängnis hinterrücks erschossen, und Elisabeth und Carlos werden vom König bei ihrem letzten Treffen im Kloster San Giusto überrascht. Alle scheitern grandios an den ihnen auferlegten Zwängen. Elisabeth entsagt ihrer Liebe zu Carlo, der Großinquisitor fordert das Leben Carlos, der aber vor den Augen seines Vaters und des Großinquisitors im Boden versinkt- der weltlichen Macht entzogen. Elisabeth geht vor dem Großinquisitor auf die Kniee, aber Philipp bleibt stehen – eine Abweichung vom Libretto, die andeutet, dass die Idee der Gedankenfreiheit bei Philipp II. auf fruchtbaren Boden gefallen sein könnte. Der Preis für den Machterhalt in einem Reich, in dem viele Völker leben, ist der Verlust der Menschlichkeit, die Unmöglichkeit der Gedankenfreiheit und die physische Vernichtung von Andersdenkenden.

Die Gefühle der Hauptpersonen hat Verdi in hochemotionale Arien und Ensembles gegossen.

Der Dialog des Königs Philipp mit dem Großinquisitor ist ein Kristallisationspunkt der Handlung und ist, auch in der musikalischen Umsetzung mit den tiefen Bläsern und Streichern als Begleitung des greisen Kardinals, ein weiterer Höhepunkt des Stücks. Hier gestalten zwei Bässe der Weltklasse die Unterwerfung des Königs unter das Diktat der katholischen Kirche. „Wenn Gott seinen einzigen Sohn geopfert hat, kann das der König auch,“ so zwingt der Großinquisitor den König, seinen eigenen Sohn exekutieren zu lassen. Der südkoreanische Bass Jongmin Park verkörpert die furchteinflößende Gestalt des Großinquisitors mit beklemmender Intensität und großer Tiefe. Sein Stimmumfang reicht bis zum voll ausgesungenen tiefen e beim Oktavsprung in „Sire“. Ihm gesteht Verdi keine Arie zu, denn der alte blinde Priester hat kein Mitgefühl.

Teatro alla Scala/DON CARLO/Foto: Brescia und Amisano ©Teatro alla Scala

Ihm gegenüber steht Michele Pertusi als menschlicher König Philipp, der an seiner Herrscherrolle und an seiner Eifersucht auf seinen Sohn leidet. Im Gegensatz zur Premiere ist er nicht mehr indisponiert, und sein großer nuancenreicher Bassbariton, der über zwei Oktaven in großen Sprüngen vom hohen f zum tiefen f geht, füllt das Haus. So differenziert und verletzlich erlebt man selten den König. Im Duett mit Posa zeigt er Menschlichkeit, in seiner großen Szene: „Ella giammai m´amo!“ das Eingeständnis seines Scheiterns als Mann und Herrscher, und in seinem Duett mit dem Großinquisitor wird klar, dass er dagegen ankämpft, nur eine Marionette des Klerus zu sein, aber der Großinquisitor übertrifft ihn mit seinen tiefen Tönen und weist ihn in seine Schranken.

Bariton Luca Salsi als Posa steht kraftvoll und stimmschön für die Ideale der Aufklärung, die erst viel später in der französischen Revolution zum Tragen kamen. Sein Plädoyer für die Gedankenfreiheit: „date la libertá“ im Duett mit dem König und das Freundschaftsduett mit Francisco Meli als Don Carlos begeisterten durch ihr Pathos. Der Opfertod des Posa geht unter die Haut. Aber er ist auch ein Machtpolitiker, der den naiven Infanten Carlos für seine politische Idee der Religionsfreiheit in Flandern instrumentalisiert.

Tenor Francesco Meli gibt einen Prinz Carlos, der bei der feierlichen Ketzerverbrennung einen Skandal provoziert, indem er in aller Öffentlichkeit die Auflehnung gegen den autoritären Vater wagt. Er erhebt das Schwert gegen den König, um seiner Forderung nach Einsatz in Flandern Nachdruck zu verleihen. Diesmal ist sein hohes h in der Auflehnung gegen den Vater in der Autodafé-Szene klar zu hören. Er überzeugt vor allem als jugendlich-naiver junger Liebhaber mit berückenden Kantilenen. 

Veronica Simeoni als Eboli hat zwar nicht den Starbonus einer Elina Garanća, blieb ihrer Partie der berechnenden Intrigantin, die mit berückender Sinnlichkeit Carlo umgarnt, die Königin beim König denunziert, dann aber reumütig den Infanten retten will, nichts schuldig. Der Szenenapplaus bei ihrer temperamentvollen Szene: „O don fatal“ war gewaltig.

Mehr als die Zweitbesetzung war die aus Uruguay stammende Marìa José Siri als Elisabetta. Ihr großer Auftritt „Tu che la vanita“ im vierten Akt überzeugte mit dem im delikaten messa di voce verhauchten Oktavsprung bei „Francia“, in dem sie mit der Netrebko voll mithalten konnte. Sie ist vor allem als Aìda weltweit eingesetzt und singt die großen Primadonnenpartien in bedeutenden Häusern in Deutschland, Wien und Italien.

Regisseur Lluis Pasqual hatte bei seiner Personenführung viel damit zu tun, die rund hundert Chormitglieder zu platzieren. In den intimeren Szenen hätte man etwas mehr Interaktion erwartet, allerdings gelangen sämtliche Szenenwechsel dank der ausgeklügelten Mechanik von Daniel Bianco mit verschiedenen Versatzstücken im Stil der spanischen Renaissance auf der Drehbühne mit im Halbkreis rollenden halbzylindrischen Wänden nahtlos. Der große Chor fand rechts und links auf je zwölf Stufen Platz neben der Drehbühne. Sie wurde unter anderem mit Gittern als Kerker und mit einer goldenen Fassade als Hintergrund des Autodafés ergänzt.

Exquisit waren die historisch korrekten und aufwändig gearbeiteten Renaissance-Kostüme von Franca Squarciapino, die die soziale Stellung ihrer Träger ausdrückten. So waren König und Königin in goldbestickte Gewänder gekleidet, der Großinquisitor in Kardinalspurpur, das Volk in schlichtes Schwarz. Dirigent Riccardo Chailly trug die Sängerinnen und Sänger mit dem Orchester der Mailänder Scala auf Händen, indem er auf jede Phrasierung einging. Allerdings habe ich sein Dirigat oft als schleppend und temperamentlos empfunden. Da haben mir der junge Hermes Helfricht als Dirigent 2021 in Bonn und Andrea Sanguinetti 2022 in Essen besser gefallen. Den größten Applaus bekam am Schluss Luca Salsi als Posa, dessen Freundschaftsduett mit Francesco Meli als Carlo die Ideale der Freiheit hochleben ließ.

Teatro alla Scala/Foto: Marco Brescia © Teatro alla Scala

Die Mailänder Scala ist selbst ein Triumph bürgerlicher Freiheiten, denn der 1778 fertig gestellte Neubau wurde von Privatpersonen, den palchettisti (von palcho, Loge), finanziert, die 155 der 194 Logen besaßen, über den Rest der Plätze konnte der Impressario verfügen. Für ihren Bau wurde eine Kirche aus dem 14. Jahrhundert abgerissen. Bis heute ist die Mailänder Scala ausschließlich durch Eintrittsgelder und Sponsoren finanziert. Agenturen erwerben oft große Platzkontingente mit Stars wie Anna Netrebko und verkaufen die Karten mit saftigen Aufschlägen von bis zu 500 € über Reisebüros in Pauschalarrangements. Erheblich günstiger ist der Online-Sofortkauf beim Ticketbüro der Scala, bei dem man per Kreditkarte Tickets im „Print-on-demand“-Verfahren zum festen Preis direkt erwerben kann. Die Seitenlogen haben oft eingeschränkte Sicht auf die Bühne, die Plätze in der zweiten und dritten Reihe der Logen sind nur Hocker.

Wir haben die letzte Vorstellung der Serie gesehen, bei der der enorme Perfektionsdruck der Premiere keine Rolle mehr spielte. Vor allem Michele Pertusi (Philipp) und Francisco Meli (Carlos) waren besser disponiert als bei der Fernsehaufzeichnung. Die Autodafé-Szene mit dem großartigen Tableau und mehr als hundert Sängerinnen und Sängern auf der Bühne sollte man live gesehen und vor Ort gehört haben, denn das übersteigt die Möglichkeiten einer Aufzeichnung.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Teatro alla Scala / Stückeseite
  • Titelfoto: Teatro alla Scala/DON CARLO/Foto: Brescia und Amisano ©Teatro alla Scala
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