Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Der Ungeliebte

Opern-Kritik: Deutsche Oper Berlin – Anna Bolena

Der Ungeliebte

(Berlin, 15.12.2023) Donizettis Werkkosmos des Belcanto will mit höherer Spannung und Affekten gefüllt sein. Dies gelingt an der Deutschen Oper Berlin immerhin teilweise. David Alden baut ästhetische Bilder von figurativer Klarheit. Enrique Mazzola weckt in der Sinfonia ganz hohe Erwartungen, die er später nicht vollends einlöst.

vonRoland H. Dippel,

Etwa 20 Jahre liegen zwischen den letzten „Anna Bolena“-Aufführungen der Deutschen Oper Berlin mit Lucia Aliberti und der Übernahme dieser 2021 an der Oper Zürich herausgekommenen Produktion. David Alden inszenierte in einem ästhetisch bestechenden Zeitmix aus Gideon Daveys erlesenen Tudor-Kostümen, Herren unter Zylindern und der Politintrige unter trister Glühbirne. Für die sadomasochistischen Episoden war das bildgewaltig, verläpperte musikalisch allerdings durch eine den großen Sog schmälernde Penibilität. Das Premierenpublikum feierte alle Mitwirkenden mit lautem und sich gegen vereinzelte Enttäuschungsbuhs vehement wehrendem Applaus. Neben dem fulminanten Basso cantante (e lirico) Ricardo Fassi, der den sprichwörtlichen Womanizer und Tyrann Heinrich VIII. zum fast sensiblen Schlächter machte, sowie den beiden bravourösen Belcanto-Mezzi Vasilisa Berzhanskaya und Karis Tucker wurde der Abend eine große Stunde für die von Jeremy Bines auf betörende Linien getrimmten Damen- und Herrenriegen des Chors. Ohne Zweifel ist die Deutsche Oper Berlin dank der früheren Vorarbeit von Jesús López Cobos und der jetzigen Kontinuität durch Enrique Mazzola eine erstklassige Location für Belcanto und Grand Opéra.

Szenenbild aus „Anna Bolena“
Szenenbild aus „Anna Bolena“

Komplexes Tudor-Epos

Trotzdem: „Anna Bolena“, Felice Romanis auf Privates und Emotionales konzentrierter Digest der historischen Begebenheiten im Londoner Tower 1586, ist sogar für die Deutsche Oper Berlin schwierig. Vergleiche von Donizettis für das Mailänder Teatro Carcano und den Primadonnen-Stern Giuditta Pasta komponierte Historienpanorama zu Verdis Meisterwerk „Don Carlos“ drängen sich auf. Doch während Verdi die emotionalen und dramatischen Daumenschrauben anzog, verdichtete Donizetti in der richtungweisenden Partitur die mehrsätzigen Nummernformen seiner Zeit. Es liegt an Sängern und Dirigent, Donizettis Werkkosmos mit höherer Spannung und Affekten zu füllen. Genau das gelang an der DOB allerdings nur zum Teil, obwohl David Alden nach sehr viel Sekt- und Zigaretten-Herumgetue zu sehr eindrucksvollen Arrangements fand. Alden hatte es vor allem der tyrannische König ohne Arie angetan. Enrico VIII. ist bei ihm auch Kunstliebhaber und empfindet Lust vor allem bei Frauen im existenziellen Ausnahmezustand. Am Ende erleidet auch Enrico VIII. selbst einen psychischen Kollaps, weil er keine wahre Liebe findet und desto krudere Grausamkeiten auffährt. Riccardo Fassi gibt einen Beau an der Schnittstelle von Don Giovanni und Machiavelli, singt mehr die verletzte Seele als den Tyrannen.

Szenenbild aus „Anna Bolena“
Szenenbild aus „Anna Bolena“

Traumata-Arsenal

Alden baut ästhetische Bilder von figurativer Klarheit bis zum hohen Skelett am Ende, setzt schnörkellose Auftrittslinien vor den Rundwänden Daveys. Szenen-Clou ist die spätere Elizabeth II. als größeres Kind (Mirabelle Heymann), welches sich im toxischen Klima jenes Traumata-Arsenal einfängt, was Donizetti in seinen späteren Opern „Maria Stuart“ und „Roberto Devereux“ ausgestalten wird. Für die Exzessivität des Dramas „Anna Bolena“ bedarf es allerdings mutiger und glutvoller Zentralgestirne.

Verheißungsvoll

Enrique Mazzola weckt in der Sinfonia zuerst ganz hohe Erwartungen. Die Celli locken mit fragmentierten Motiven. Und die Holzbläser deuten in Kantilenen-Lieblichkeiten spätere Eruptionen an, die dann doch nicht kommen. Betreffend Balance, Idiomatik und Stilkenntnis stimmt alles beim Orchester der Deutschen Oper Berlin. Aber es fehlt dann doch der Kick in das prickelnd ekstatische Ping-Pong zwischen sängerischen Angeboten und dirigentischer Befeuerung. Auf fast unbemerktem Posten nutzte Jonas-O’Toole seine Chance als Hervey, ein formidabler Riff Raff am Tudor-Hof, alles, was Donizetti ihm ermöglichte. Gleichrangig setzten Vasilisa Berzhanskaya und Karis Tucker sängerisch hochkarätige Chiaroscuro-Flächen: Berzhanskaya in der erotisch-karrieristischen Schieflage als Giovanna Seymour, Tucker als seine Poesie mit dem Körper, die Königin aber nur mit der Seele liebender Smeton. Die mit diesen Besetzungen möglichen Flächenbrände wollte Mazzola allerdings nicht verstärken. Auch dem frisch genesenen und ganz minimal gehandicapten René Barbera entgehen in der Partie des leidenschaftlich unbedachten Liebhabers Percy einige Wirkungsmöglichkeiten. Denn durch die Kolleginnen und Kollegen und das Dirigat wird er weder zur sentimentalen noch zur forschen Befeuerung herausgefordert. Sympathieträger wäre Padraic Rowan als Annas Bruder Lord Rochefort auch ohne das im brutalen zweiten Teil reichlich eingesetzte Theaterblut.

Szenenbild aus „Anna Bolena“
Szenenbild aus „Anna Bolena“

Solide Königin

Eine gute Stimme im wohl für sie ungeeigneten Partienkörper ist Federica Lombardi als Anna Bolena. Ihr Soprano lirico spinto wirkt wie die italienische Reaktion auf Lise Davidsen: In der Mittellage flutet Lombardi zwischen fast immer gleichmäßigen Tiefen- und Höhenregistern, zeigt aber Sensibilitäten-Immunität bei so gut wie allen Koloraturen und Verzierungen. Man muss nicht gleich Vergleiche mit Gruberová, Nicolesco, Cuberli oder der in „Anna Bolena“ ebenfalls Grenzen erkennbar machenden Katia Ricciarelli ziehen. Das Erstaunliche ist trotzdem: Lombardi hätte das Potenzial für Donizettis musikdramatische Schicksalsmaschinerie und eine Frau, welche die Liebe der Karriere und dem Status opfert. Aber sie singt alles geradlinig durch. Auf eine subtile Affekt-Strategie mit Überraschungs- und Überwältigungsmomenten in Fermaten, Ritartandi und Schwelltönen wartet man vergebens. Den belcantistischen Seelen-Striptease, die Vokalverheißungen auf Messers Schneide und den melancholischen Schimmer von Donizettis kompliziertem Meisterwerk erhielt man von allem vom Chor und den tieferen Stimmen.

Deutsche Oper Berlin
Donizetti: Anna Bolena

Enrique Mazzola (Leitung), David Alden (Regie), Gideon Davey (Bühne & Kostüme), Elfried Roller (Licht), Arturo Gama (Choreografie), Robi Voigt (Video), Jeremy Bines (Chöre), Michael Küster, Jörg Königsdorf (Dramaturgie), Riccardo Fassi, Federica Lombardi, Vasilisa Berzhanskaya, Padraic Rowan, René Barbera, Karis Tucker, Chance Jonas-O’Toole, Chor der Deutschen Oper Berlin, Orchester der Deutschen Oper Berlin

Auch interessant

Rezensionen

  • 2018 gab Rubén Dubrovsky sein Debüt am Gärtnerplatztheater München
    Interview Rubén Dubrovsky

    „Es geht um die Wurzeln der Musik“

    Rubén Dubrovsky, Chefdirigent des Gärtnerplatztheaters, geht musikalischen Dingen gerne auf den Grund und kommt dabei zu manch verblüffender Erkenntnis.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!