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Frankfurt, Oper: MARTHA; 16.12.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Martha

copyright aller Bilder: Barbara Aumüller, mit freundlicher Genehmigung Oper Frankfurt

Romantisch-komische Oper in vier Akten | Musik: Friedrich von Flotow | Libretto: Wilhelm Friedrich (Pseudonym für Friedrich Wilhelm Riese) | Uraufführung: 25. November 1847, Wien (Kärntnertortheater) | Aufführungen in Frankfurt (Wiederaufnahme): 11.11. | 19.11. | 7.12. | 9.12. | 14.12. | 16.12. | 22.12.2023

Kritik:

EIN GOLDKLUMPEN (MIT PATINA)

Als einen "Goldklumen, den man heben muss" bezeichnet die Regisseurin Katharina Thoma die einstige Erfolgsoper MARTHA von Friedrich von Flotow im Programmheft. Damit dieser Klumpen wieder glänzt, reicht das alleinige  Heben allerdings nicht - der Klumpen bedarf auch einer gehörigen Portion Politur. Und genau diese hat sie Flotows Oper verabreicht und damit dieses Schmuckstück, das Jahrzehnte lang die meist gespielte Oper weltweit war, erneut zum Funkeln gebracht. 

DATING EINST UND HEUTE

In der Oper, die zur Regierungszeit von Queen Anne spielt (1702-1714), machen sich zwei gelangweilte Damen aus der Oberschicht einen Jux daraus, sich auf einem Bauernmarkt feschen Pächtern als Mägde anzubieten. Die Regisseurin sieht das für die heutige Zeit genauso, mit dem kleinen Unterschied, dass man sich erst mal auf einschlägigen Dating Apps durch das Angebot swipt und so eine Vorauswahl trifft. Also erstellt Nancy für ihre Herrin Lady Harriet flugs ein Profil auf "Posh Pair" und schon gibt's über 500 Matches. Das ist szenisch äusserst raffiniert umgesetzt, mit der Projektion des Bildschirms von der beiden Tablet, auf dem sie sich durch das Angebot swipen, die esoterischen, verweichlichten Yoga-Männer und die biederen Brillenträger schnell nach rechts wischen (Papierkorb), hängen bleiben sie dann bei zwei bärtigen, attraktiven Bauern, deren Profile nach links gewischt werden (interessiert). Das reale Treffen findet dann nicht auf dem Markt zu Richmond, sondern im Festzelt eines Oktoberfestes statt, wo die Gaudi in vollem Gange ist und als Höhepunkt auch eine Mägdeversteigerung abgehalten wird. Unter die Mägde mischen sich auch Crossdresser, die sich einen reichen Daddy schnappen wollen und die (männlichen) Cheerleaders scheinen direkt vom CSD zu kommen. Herrlich turbulent. So geht's auch weiter; HarrIet und Nancy müssen also dem vom Richter bestätigten Vertrag Folge leisten und den beiden Bauern auf den Hof folgen. Der wird allerdings gerade umgebaut, so dass alle vier in einem engen Campingwagen unterkommen müssen. Das ist alles so wunderbar genüsslich und detailverliebt in Szene gesetzt, dass man aus dem amüsierten Schmunzeln gar nicht mehr herauskommt. Die raffinierte Bühne von Etienne Pluss, welche sich die Frankfurter Spezialität der doppelten Drehbühne reichlich zunutze macht, ermöglicht einen unendlichen Reigen von Requisiten, welche die Handlung mit Witz und Schmiss voranbringen. Da fährt Marthas Verehrer Lord Tristan im Mini Cooper vor, um die beiden Mädels von den Bauern zu entführen, da findet die Jagdszene auf dem Golfplatz statt, mit einer Horde von pinken Playboy - Bunnies, die gejagt werden. Es ist einfach alles umwerfend komisch in Szene gesetzt, ohne den Grundgedanken des Werks zu verletzen. Selbstredend ist das alles auch handwerklich kompetent und geschickt inszeniert mit perfektem Timing der Gags, von dem "running gag" der Treppe vor dem Boudoir Lady Harriets, die Lord Tristan das Leben schwer macht, bis zum Stromgenerator, der von den beiden Mägden auf dem Bauernhof betrieben werden soll (anstelle des Spinnrads im Libretto). Und selbst das aus heutiger Sicht problematische Ende des Werks, das quasi die endgültige Vereinigung von Lyonel und Martha nur dank eines Rings ermöglicht, der Lyonels vornehme Abstammung beweist und somit die Standesunterschiede aufhebt, wird in der augenzwinkernden Interpretation von Katharina Thoma zum amüsanten Moment: Die Queen schwebt ganz im Sinne der ersten Barockopern als veritable Dea ex Machina in Purpurrobe und Hermelinumhang vom Bühnenhimmel und weist Martha den Weg zum Liebesglück, das dann im Campingwagen, auf dem nun "Just married" steht, seine Erfüllung findet. Neben dem Lob für Szene und Regie gehört auch ein großer Dank an Irina Bartels für die knallbunten und fantasievollen, den Charakteren wunderbar angepassten Kostüme, an Olaf Winter für das Licht, an Michael Schmieder für die Chorgeographie, an den Chor und den Damen-Extrachor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael) und vor allem an die Leiterin der szenischen Wiederaufnahme, Caterina Panti Liberovici, die am gestrigen Abend eine ganz besondere zusätzliche Aufgabe übernommen hatte, sie spielte nämlich den Lyonel, da AJ Glueckert krankheitsbedingt absagen musste. Der Einspringer, Gerard Schneider, stammt zwar auch aus dem Frankfurter Ensemble, war am Vorabend jedoch als Lenski an die Komische Oper nach Berlin ausgeliehen worden und musste danach schnell nach Frankfurt zurückreisen. Für szenische Einweisungen blieb also keine Zeit mehr und so sang er die Partie ab Blatt vom Bühnenrand her - und dies ganz beachtlich, mit warmem Schmelz in der Stimme. Vor allem die Tenorarie aller Tenorarien "Ach so fromm - Martha, Martha, du entschwandest" gelang ihm fein und berührend. In der Titelpartie glänzte Monika Buczkowska mit sicher geführtem, in den Koloraturen perlig agilem Sopran und natürlich frischer Darstellungskunst. Von zartem Vibrato umflort ging die Arie von der "letzten Rose" zu Herzen. Ganz fabelhaft sang und agierte Katharina Magiera als Nancy: Was für eine wendige, wohklingende und mit sattem Timbre ausgestattete Altstimme. Der bodenständige Plumkett von Erik van Heyningen war ihr ein kongenialer, spielfreudiger Partner, ein echter Sympathieträger in seinem Pullunder und mit den Gummistiefeln. Sebastian Geyer (am Vorabend noch als Bürgermeister in DIE NACHT VOR WEIHNACHTEN zu erleben gewesen) gab einen herrlich eitlen Geck als Lord Tristan mit seinen grellfarbenen Anzügen (türkis und lila) und war verdammt komisch im Kilt auf dem Oktoberfest, wo er seinen Intimbereich gegen die übergriffigen Dirndlmädels zu schützen versuchte. Franz Meyer hatte einen beindruckend komischen Auftritt als Richter am Oktoberfest und der Schlagzeuger Georg Hromadka verdiente sich einen Sonderapplaus durch seine Auftritte mit Trommel, Triangel und Becken auf der Bühne.

Victorien Vanoosten leitete mit Verve das Frankfurter Opern- und Museumsorchester und ließ den unsterblichen Melodien Flotows das gebührende Quäntchen Schmalz effektsicher angedeihen.

Der Goldklumpen wurde gehoben und mit frischem, neuem Glanz versehen. Diese Oper ist so gekonnt gearbeitet, so einfallsreich in ihrem Reichtum an Melodien, dass sie unbedingt wieder öfter auf dem Spielplan auftauchen müsste. Auch wenn man Flotow einen gewissen Eklektizismus nicht absprechen kann, so ist das Werk doch von zumindest ebenbürtiger QualItät im Vergleich zu häufig anzutreffenden Buffo-Opern und hat mit dem romantischen Touch einen zusätzlichen Reiz.

Inhalt:

Lady Harriet ist verstimmt: Sie hat das Leben am Hof satt. Ihre schlechte Laune lässt sie an Lord Tristan aus, der in sie verliebt ist. Als die Hofdamen den Gesang der einfachen Mädchen, die zum Markt von Richmond ziehen, hören, beschliessen sie, sich ihnen als Mägde verkleidet anzuschliessen.Selbst Tristan kommt mit, als Pächter verkleidet. Auf dem Markt herrscht emsiges Treiben. Unter den Besuchern suchen auch Plumkett und Lyonel nach Mägden. Die beiden werfen ein Auge auf Lady Harriet und ihre Vertraute Nancy (die sich nun Martha und Julia nennen) und verdingen die beiden Mägde in ihre Dienste. Da Martha und Julia bereits Handgeld entgegengenommen haben, bleibt ihnen gemäss Richterspruch nichts anderes übrig, als den beiden Herren ein Jahr lang zu dienen.

Lyonel und Plumkett schaffen es nicht, ihren beiden neuen Mägden Tätigkeiten wie Spinnen, Kochen oder Nähen beizubringen. Die beiden Mägde schaffen es jedoch in Lyonel und Plumkett erotisches Begehren zu wecken. Als Martha das Lied von der "letzten Rose" anstimmt, wird Lyonel vollends schwach und bietet der Magd sein Herz und seine Hand an. Doch er wird von ihr ausgelacht. Die (vermeintlichen Standesunterschiede) verhindern, dass Martha auch zu ihren Gefühlen Lyonel gegenüber stehen kann. Nancy und Martha beraten, wie sie sich aus der peinlichen Situation retten können. Bei Nacht und Nebel erscheint zum Glück Lord Tristan und bringt die beiden Damen wieder ins Schloss zurück.

Plumkett sitzt mit einem Bier in einer Waldschenke, als die königliche Jagdgesellschaft eintritt. Höchst erstaunt erkennt er in der Jagdgesellschaft seine Magd Julia und macht seine Rechte auf sie geltend. Er wird von Nancys Freundinnen mit Lanzenstichen vertrieben. Auch Lyonel (er singt an dieser Stelle den grossen Hit Ach so fromm - Martha! Martha! du entschwandest) trifft auf Martha und beteuert ihr erneut seine Liebe. Doch sie weist ihn trotz ihrer Gefühle wiederum ab. Er erinnert sie an ihre Magdpflichten; daraufhin wird er für verrückt erklärt und verhaftet. Er kann Plumkett gerade noch einen Ring zustecken, den er einst von seinem Vater erhalten hatte.

Plumkett schickt den Ring an die Königin. So stellt sich heraus, dass Lyonel von vornehmer Abstammung ist, er ist nämlich der Sohn eines unschuldig verbannten Grafen. Lady Harriet macht sich nun, da keine Standesunterschiede mehr zwischen ihnen stehen, sofort zu Lyonel auf und bittet ihn um Verzeihung, indem sie nochmals die "letzte Rose" anstimmt; doch Lyonel weist sie als "falsche Sirene" zurück. Lady Harriet organisiert einen Mägdemarkt direkt in Plumketts Pachthof. Lady Harriet tritt in der Verkleidung als Martha auf. Plumkett führt den depressiven Lyonel herbei. Lyonel fragt Martha, was sie denn könne. Sie erwidert, dass sie allem höfischen Glanz entsagen und ihm treu dienen könne. Nun kann Lyonel nicht mehr widerstehen - es wird eine Doppelhochzeit gefeiert.

Werk:

Es ist schon erstaunlich: MARTHA gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts einige Jahrzehnte lang zu den meistgespielten Opern, auch in Übersee, und verschwand dann praktisch komplett. Einige Nummern tauchten aber immer wieder in Wunschkonzerten auf. Nur ganz vereinzelt wurde die Oper, die ein regelrechtes Füllhorn an eingängigen Melodien ausschüttet, auf der Bühne inszeniert. Das biedermeierliche Arrangement mit den bestehenden Verhältnissen und Standesunterschieden hatte in den Augen von Kritikern, gesellschaftlich engagierten Künstlern und Intendanten plötzlich keinen Platz mehr im Repertoire. In MARTHA wird das Happyend nämlich nicht dadurch erreicht, dass Lady Harriet sich vom dekadenten höfischen Leben aus Überzeugung abwendet, sondern dadurch, dass sich Lyonel als Aristokrat entpuppt. Damit negieren Flotow und sein Librettist die gesellschaftlichen Revolutionen von 1789 und 1830. Trotz all dieser Einwände blieb MARTHA die einzige deutsche Oper aus der Biedermeierzeit, die sich - wie oben angeführt - in Frankreich, Italien, Grossbritannien und auch den USA mit riesigem Erfolg durchsetzen konnte. Die sorgfältig gearbeiteten, einfallsreichen Meldodien sind deutscher Biedermeier auf Weltniveau, wie Ulrich Schreiber (nebst vielen sehr kritischen Anmerkungen zu MARTHA in seinem Opernführer für Fortgeschrittene) schreibt.

Friedrich von Flotow (1812-1883) gehörte zu einer uradeligen mecklenburgischen Familie. Von Seiten der Familie war für den jungen Mann eine diplomatische Laufbahn vorgesehen gewesen, doch als sein musikalisches Talent erkannt wurde, durfte er in Paris am Konservatorium studieren. Bald stellten sich in Paris erste Erfolge ein: Das Ballett LADY HARRIET fand grossen Anklang, auch einige Singspiele aus seiner Feder wurden dort aufgeführt. Mit ALESSANDRO STRADELLA hatte er in Hamburg Erfolg. Drei Jahre später folgte mit MARTHA ODER DER MARKT ZU RICHMOND sein Welterfolg. Ein Jahr später siedelte von Flotow wieder nach Mecklenburg um, wurde Hoftheaterintendant in Schwerin und komponierte zur Einweihung des neuen Schweriner Schlosses die Oper JOHANN ALBRECHT, HERZOG VON MECKLENBURG. Intrigen führten zu seinem Wegzug aus Schwerin. In Wien baute er die Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten auf, die sich für die Urheberrechte von Komponisten einsetzte. Er starb (drei Wochen vor Richard Wagner) völlig erblindet im Haus seiner Schwester in Darmstadt.

Karten

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