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WIEN / Staatsoper: LA BOHÈME

Zwei neue Gesichter und frische Stimmen in Zeffirellis Muster-Inszenierung

WIEN / Staatsoper: LA BOHÈME

458. Aufführung in dieser Inszenierung

28. November 2023

Von Manfred A. Schmid

Anlässlich des 100. Geburtstag von Franco Zeffirelli erinnern sich heuer viele große Häuser an dessen großartige La Bohème-Inszenierung aus den 60er Jahren, die einst an vielen Bühnen nachgespielt worden war. An der Mailänder Scala kam es so zur  234.  Aufführung dieser Produktion, die sich mit dem geschäftigen, bunten Treiben im Quartier Latin im 2. Bild und der eisigen, schneeverwehten Wiederbegegnungs-Szene von Mimi und Rodolfo im 3. Bild wohl für immer in die Herzen der Opernfans eingegraben hat. Im Vergleich dazu ist das Wiener Publikum von der Staatsoper, wo Zefirellis La Bohème über die Jahre immer wieder und mit tollen Besetzungen (zuletzt Netrebko 2022, Willis-Sörensen Anfang 2023) zu bewundern war, geradezu verwöhnt worden. Hier hat sie es – besucht wird die zweite Vorstellung der derzeit laufenden Aufführungsserie – inzwischen immerhin auf stattliche 458 Aufführungen gebracht!

Die Opernregie hat sich in den verstrichenen sechzig Jahren gewiss – nicht immer zum Vorteil – verändert, aber die Art, wie Zeffirelli bei der Personenführung geradezu cineastisch vorgeht und die prekären Lebensumstände, die Träume und Sorgen der handelnden Personen lebensecht auf die Bühne bringt, ist noch immer beispielgebend. Wie es ihm gelingt, im Gewirr der Menschen vor dem Café Momus, im Geschrei der Händler und der vorbeiziehenden Leute im rechten Moment den Fokus auf den gerade Singenden zu richten, ist einzigartig. Da kann wohl nur ein Kaliber wie Harry Kupfer, dessen wiederausgegrabene La Bohème an der Volksoper in der vergangenen Saison für Aufsehen gesorgt hat, einigermaßen mithalten.

Die Aufführung, die mit neuen, frischen Stimmen aufwarten kann, ist auch darstellerisch eine Freude und beweist einmal mehr, wie gut bespielbar Zeffirellis in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts verankerte Bühne noch immer ist. Musikalisch sorgt mit Marco Armiliato ein Garant für Italianita und ob seiner Verdienste für das italienische Repertoire längst zu Ehrenmitglied des Hauses ernannt, für eine bezwingende Leistung am Pult des Staatsopernorchesters. Mit einem stets wachsamen Ohr für die Bedürfnisse das Gesangsensembles auf der Bühne und für die von Martin Schebesta hervorragend einstudierten drei (!) Chöre des Hauses, die im turbulenten 2. Bild zum Einsatz kommen. Nicht zu vergessen der muntere Kinderchor der Opernschule.

Freddie De Tommaso ist mit seinem kraftvollen, etwas dunkel leuchtenden Tenor ein auch darstellerisch überzeugender Rodolfo. Das hohe C in „Che gelida la manina“ gelingt ihm makellos und lässt auch den nötigen Schmelz nicht vermissen. Dass am Schluss der Arie das letzte Wort, der letzte Ton nicht ganz gelingt, fällt nicht weiter ins Gewicht. Der kaum dreißigjährige britisch-italienische Sänger zeigt, dass er auch technisch gut gerüstet ist und sich selbstverständlich noch weiterentwickeln und perfektionieren und damit weniger Krafteinsatz aufbringen wird.

Ebenfalls noch jung, aber bereits höchst bemerkenswert ist auch Roberta Mantegna als bezaubernde Mimi: Sie verfügt über einen klangschönen Sopran, starker Präsenz in allen Stimmlagen und feinem Passagio. Mit ihrem innig-unschuldigem „Mi chiamano Mimì“ gewinnt die Sizilianerin nicht nur auf Anhieb Rodolfos Herz, sondern auch das der Zuhörerschaft. Besonders subtil und nuancenreich gestaltet sie das Duett mit Marcello im 2. Bild. Diese Sängerin möchte man bald wieder auf der Bühne der Staatsoper erleben. Das gilt auch für De Tommaso, der in Wien aber auch schon in anderen Rollen auf sich aufmerksam gemacht hat.

la boheme 2

Günther Groissböck (Colline), Leonardo Neiva Marcello) und Michael Arivony (Schaunard).

Stimmlich eine Enttäuschung ist Anna Bondarenko, erst seit einem Jahr Ensemblemitglied, als Musetta. Da sie mit ihrem neckischen Walzerlied „Quando m’en vò“ gesanglich nur einen großen Auftritt hat, ist es besonders unangenehm, wenn dieses misslingt und geradezu brüchig klingt. Man möchte annehmen, dass die Sängerin, die immerhin darstellerisch reüssieren konnte, indisponiert angetreten ist.

Stimmlich etwas ausgezehrt wirkt auch der Parpignol von Wolfgang Igor Derntl. Da es sich aber um eine Nebenfigfur handelt, ist das weiter nicht so tragisch. Man erinnert sich vielleicht aber an Vorstellungen, bei denen sogar ein Norbert Ernst als Parpignol aufgeboten wurde. 

Kein Tadel, sondern nur Lob ergeht an die drei Kollegen in Rodolfos Künstler-WG. Der brasilianische Bariton Leonardo Neiva ist ein sehr präsenter Marcello, stimmlich und szenisch versiert und von einnehmneden Erscheinung. Michael Arivony, eine Hausbesetzung für die Rolle des Musikers Schaunard. beweist ein weiteres Mal seine Tauglichkeit für höchst unterschiedliche Partien. Gesanglich wie spielerisch ist er tatschlich so etwas wie A Man For All Seasons, ein Mann für so ziemlich jede Gelegenheit, wann immer es sich um einen Bariton handelt.

Günther Groissböck holt sich als Colline den verdienten Applaus für die Mantel-Arie ab, zeigt aber, dass er sich für keine Rolle zu schade ist, sondern auch in nicht zentralen Rollen sein Können und seine reiche Erfahrung einfließen lässt. Was für ein Gewinn für das Ensemble der Wiener Staatsoper!

Marcus Pelz ist eine verlässliche Besetzung für die Doppelrolle des übertölpeltem Hausherrn Benoit und des ebenso übel mitgespielten Alcindoro, Musettas Sugar-Daddy. 

Am Ende dankt das begeisterte und nach der herzzerreißenden Sterbeszene der Mimì vielfach zu Tränen gerührte Publikum mit starkem Beifall für eine schönen, ergreifenden, weitgehend gelungene Opernabend.

 

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