1. Startseite
  2. Kultur
  3. Theater

„Werther“ in Baden-Baden – Lesen ist gefährlich

KommentareDrucken

„Werther“ in Baden-Baden: Charlotte und Werther, Kate Lindsey und Jonathan Tetelman in der Bücherei.
„Werther“ in Baden-Baden: Charlotte und Werther, Kate Lindsey und Jonathan Tetelman in der Bücherei. Foto: Andrea Kremper © Andrea Kremper

Jules Massenets „Werther“ im Festspielhaus Baden-Baden: ernst und mit glanzvollem Ensemble, angeführt von dem spektakulären Tenor Jonathan Tetelman

Dass etliche berühmte Goethe-Opern aus Frankreich kommen, gehört zum schönen Teil der delikaten und ansonsten oft anstrengenden und gar fatalen Verbindung zwischen den beiden Ländern. Baden-Baden, wo sie besonders attraktiv aneinander stupsen, ist mit seinem Festspielhaus ein perfekter Ort für Jules Massenets „Werther“, noch dazu in einer Kooperation mit der Pariser Opéra national.

Massenets Werk erinnert daran, dass der Roman des jungen G. ein internationaler Bestseller war und dass einer Vertonung zwar der Weg zum Megaerfolg offen stand, in deutschen Landen aber die Hemmschwelle hoch war, aus einem GOETHE-Text ein Libretto zu machen. Wohingegen es aus französischer Sicht kein Sakrileg darstellte, wenn sich etwa Charlotte am Ende schluchzend, aber originalwidrig über den just in ihren Armen sterbenden Werther wirft. Und ihre Liebe bekennt! Gleichwohl war die Uraufführung übrigens 1892 in Wien und auf Deutsch, aber der Grund lag wohl eher darin, dass man in Paris die sinistre und denkbar unfromme Handlung fürchtete.

Die Zeit der Heiligenverehrung ist in dieser Frage natürlich längst vorbei. Nicht ganz vorbei ist das Klischee, im französischen „Werther“ gehe es zwar wohlklingend, aber auch sentimentalisch zu. Bei den Baden-Badener Herbstfestspielen klang es gar nicht so, klang es vielmehr so abgründig tragisch, wie es sich der Geschichte eines Suizids geziemt (und eines Opernbesuchs am Totensonntag). Thomas Hengelbrock, seinerseits Wahlpariser, dirigierte sein Balthasar-Neumann-Orchester, das Massenets Musik in ihrer Subtilität und Ernsthaftigkeit tief auslotete. Hengelbrock brauchte hierfür keine Schwere und Fülle, er reduzierte aber das Süffige und Süße zugunsten einer Verfinsterung und Verzweiflung, die so selten zu hören ist.

Wichtig hierfür die Amerikanerin Kate Lindsey als Charlotte, die intensivste aller denkbaren Lotten, vor allem durch einen Mezzo, der in den Höhen überzeugte, in den Tiefen aber strahlte. Die Glaubhaftigkeit, Menschlichkeit, Traurigkeit darin drückte sich immer wieder dadurch aus, dass sie das opulente Aussingen zugunsten eines Hinhauchens, Fast-Sprechens hingab. Der Effekt vor allem in der Schlussphase war enorm – wenn das Unglück nicht mehr abzuwenden ist, Charlotte weiß es eigentlich, jeder weiß es, dass Werther den Opernabend nicht überleben wird.

Dem Titelhelden hätte sie mit dieser fabelhaften Vorstellung fast den Rang ablaufen können, allerdings war das nun Jonathan Tetelman, Tenor der Stunde, einer unter 500, dessen Stimme solchen makellosen Wohlklang erreicht, solche Höhenkraft ohne hörbare Anstrengung und so ein raumsprengendes Volumen bei gleichzeitiger Kontrolle über feine lyrische Töne. Protzte er in Baden-Baden auch ein bisschen damit? Ja, schon, stellte sich zuweilen an die Rampe und zeigte, was er hat und kann. Und da Jonathan Tetelman, 1988 in Chile geboren, als Baby in die USA adoptiert, auch blendend aussieht und Kostümbildner Luis F. Carvalho dies mit einem legeren Jeans-, Kapuzenpulli- und Leder-Look von heute eher hervorhebt, als die Lage zu verkomplizieren, fragt man sich dann, warum ein so potenter Teufelskerl nicht doch einen weiteren Anlauf nimmt, glücklich zu werden. Man soll Menschen nicht nach ihrem Äußeren bewerten, aber das klingt leichter, als es ist.

Da Tetelman zum Beispiel in der „Francesca da Rimini“ (der Riccardo-Zandonai-„Francesca da Rimini) von Christof Loy an der Deutschen Oper Berlin durchaus schillernd in Szene gesetzt wurde, sprechen seine markigen Schmerzenstenorposen vielleicht auch eine Spur gegen die Regie von Altmeister Robert Carsen. Vielleicht ist es aber auch bloß ein Zeichen seiner (Carsens) Souveränität und angemessenen Salopperie.

Ohnehin ist es das Bühnenbild, das die Szene bestimmt. Radu Boruzescu verlegt die Handlung in eine Bibliothek, Bücherwände bühnenhoch, mit drei umlaufenden Galerien, von Regisseur Carsen und Peter van Praet atemberaubend ausgeleuchtet. In der Mitte Designersessel für den gepflegten öffentlichen Raum. Trotz der großen Auswahl lesen alle, Statisterie wie Ensemble, die sich nach und nach hineinschieben, in roten Werther-Exemplaren. Dass sich diese Geschichte aus der Lektüre ergibt, muss man sich zwar selbst dazudenken, aber es ist ein originelles Angebot. Auch lässt sich etwa der vergnügt kreischende und singende Kinderchor (Cantus Juvem Karlsruhe) ins Bibliotheksgeschehen gut einbetten.

Albert, der Mann, den Charlotte aus moralischen Gründen heiraten muss, ist der prächtige Bariton Nikolai Zemlianskikh, plausibel als Bibliothekar zurechtgemacht. Lottes kleine Schwester Sophie bekommt von Elsa Benoit eine fein silbrige Stimme, die sich zu Kate Lindseys gesellt wie für eine allerliebste Umarmung.

Das Kammerspiel des freundlichen und doch so glücklosen Quartetts kann sich in einer Bücherei freilich nicht ideal entfalten. Zu viel Platz, zu viel Effekt, zum Schlussbild – enorm – sieht man leere Regale und einen gewaltigen Bücherberg, der nun auch als Landschaft funktioniert. Werther stirbt auf dem geschriebenen Wort, wobei Tetelman freilich noch einmal auf die Beine kommt, zur Rampe schwankt, um schließlich sensationell und endgültig zu Boden zu gehen. Damit jeder begreift, worauf es hinläuft, hat dann auch die Statisterie Pistolen zur Hand, reihenweise wollen sie in den Freitod. Keine Fragen offen. Der Jubel groß.

Auch interessant

Kommentare