Kann ein Ort krank machen? Kann er von seinen Vorbesitzern heimgesucht sein? Kann eine Wohnung Traumata verwahren und diese an die nächsten Bewohner weitergeben? Für den russischen Regisseur Dmitri Tcherniakov scheint die Antwort ganz klar „Ja“ zu sein. Vor zwei Jahren feierte seine Elektra an der Staatsoper Hamburg Premiere, bei der er die Handlung in einer geräumigen, eleganten Altbauwohnung entfalten ließ und Strauss‘ Oper zu einem Psychothriller feinster Manier erhob. Nach zwei Jahren bekommt die Wohnung neue Mieter und einen neuen Anstrich – doch die Probleme scheinen bestehen zu bleiben und auch in dieser Familie krankt es. Mit Salome schafft Tcherniakov eine Weiterentwicklung seiner Elektra-Inszenierung und kreiert so eine Dilogie familiärer Dysfunktion und selbstzerstörerischer Tendenzen.

Loading image...
Salome
© Monika Rittershaus

Im Rahmen Herodes‘ Geburtstagsfeier – einem Diner der Eitelkeiten in einer triefend dekadenten Gesellschaft, neureich und wohlstandsverwahrlost – lotet er hier erneut die Extreme überaus krankhaft geprägter Persönlichkeiten aus und reißt in diesem schönen Schein der bürgerlichen Gepflegtheit wahre menschliche Abgründe auf. Statt hierarchisch Grenzen zu ziehen, lässt der Regisseur alle an einem Tisch sitzen: Herodias zwischen Narraboth und den Juden, daneben ein Soldat, und auch Jochanaan nimmt am Ende der Tafel Platz, statt im Verlies ausharren zu müssen. Geradezu gespannt lauscht man den Worten dieses Propheten.

Als Salome verspätet zum Bankett hinzukommt, lässt sie die anderen Gäste die übergriffige und missbrauchende Art ihres Stiefvaters spüren – doch alle schweigen. Erst als sie Jochanaan erblickt, lässt sie ihre trotzige Affektiertheit fallen und ist ganz gebannt von ihm – eine Faszination, die durch seine abweisende Haltung zu ihr noch gesteigert wird. Was nun folgt ist ein sich ständiges Verbiegen und Verstellen Salomes, um sich den Blicken Herodes‘ zu entziehen und stattdessen Jochanaans Aufmerksamkeit zu erlangen, mit dem steten Bewusstsein, dass der männliche Blick unablässig an ihr haftet und sie ihm nicht entfliehen kann.

Loading image...
Asmik Grigorian (Salome)
© Monika Rittershaus

Der Tanz der sieben Schleier wird für Salome zur Möglichkeit der absoluten erotischen Verweigerung. Für Herodes scheint nicht das langsame Ablegen der Schleier, sondern das Ankleiden seiner Stieftochter nach eigenem Gusto, wie eine Puppe, das Höchste zu sein. Die Kostüme von Elena Zaytseva, die Salome mal als traurigen Clown, mal als tanzenden Bajazzo kleiden, verstärken die Absurdität der Situation zusätzlich.

Wie so oft in seinen Inszenierungen verweigert sich Tcherniakov jeglicher Symbolik und in diesem Fall damit jeglicher Durchschlagskraft. Auf der Bühne finden sich keine Blutlachen, keine tödlichen Waffen, kein enthaupteter Täufer – er entledigt sich der Orientalismen und allem unnützen Tands – doch bis auf einzelne psychologisch prägnante Bilder, bleiben auch die Schockmomente aus. Diese Salome mag mit anfangs noch eindringlicher Personenführung in Mimik und Gestik aufwarten, bleibt in ihrer Gesamtheit jedoch zu zurückhaltend, gar trivial. Eine Geschichte abseits des Librettos weiß der Regisseur leider nicht zu erzählen.

Loading image...
Asmik Grigorian (Salome)
© Monika Rittershaus

Einzig die dank Asmik Grigorian dargestellte Komplexität der Titelpartie verleiht der Inszenierung eine außergewöhnlich einzigartigen und nachhallenden Charakter. Grigorian, die bereits 2018 in Salzburg einen überragenden Erfolg mit ihrer Salome feierte, einer Rolle, die ihr den Weg zu einer großen internationalen Karriere ebnete, bringt diese Figur mit einer überaus eigenen, faszinierenden Lesart erneut auf die Bühne. Aufgrund ihrer Erkältung ließ sich das Ausmaß ihres gesanglichen Talents an diesem Abend stellenweiße nur erahnen – die Strahlkraft und spezielle Stimmfärbung schienen jedoch immer wieder durch, auch wenn nicht alle Höhen und eine vollendete Artikulation erreicht wurden. Was jedoch evident wurde, war ihre eindringliche schauspielerische Leistung, die die Komplexität ihrer Rolle und das seelische Dilemma ihrer amour fou deutlich machten, während sie dabei zwischen kindlich naiver Unschuld und lolitahafter Adoleszenz oszillierte.

Salome ist wie ein in die Ecke gedrängtes Tier, deren erpresserisches Verlangen einer Verzweiflungstat gleichkommt. Die, die sie die unerwünschte „Liebe“ ihres Stiefvaters nicht abweisen kann, will nun selbst nicht abgewiesen werden. Zwischen Lust und Perversion, Ekstase und Radikalität, bewegt sie sich wir eine Künstlerin auf dem Drahtseil und deutet all die Kindheitstraumata und seelischen Abgründe ihrer Person in radikalem Handeln, moralischer Verderbtheit und blinder Projektion an.

Loading image...
Asmik Grigorian (Salome)
© Monika Rittershaus

John Daszak gab mit prägnant-voluminöser, auch in der Tiefe erfreulich sicher sitzender Tenorstimme, einen Herodes mit einmaliger Affektiertheit und szenisch unübertrefflicher Prägnanz. Herodias, gesungen von Violeta Urmana, deren pathologische Morbidität es ist, Büsten (Köpfe!) in Vitrinen zu sammeln, trat als exaltierte Grande Dame auf. Urmana kann eine ansehnliche Karriere im Sopranfach nachweisen, doch trotz markanter Sopranstimme gelang es ihr nur stellenweise, den pointierten Einsätzen des Mezzo-Charakterfachs gerecht werden. Mit Erfolg debütierte Kyle Ketelsen dank facettenreicher und klangfarbenstarken Baritonstimme in der Partie des Jochanaan.

Der Komponist Richard Strauss galt zur Uraufführung seiner Salome als Neutöner, indem er in bis dato nie gehörte Klangsphären vordrang. Diese Vielschichtigkeit der Partitur, mit ihrem steten Wechselspiel aus Atonalität und klassischen Harmonien, vermochte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Leitung Kent Naganos nicht in den musikalischen Extremen auszulotenden. Naganos Dirigat, wenn auch sängerfreundlich, mangelte es an Komplexität, Strahlkraft und Sinnlichkeit. Statt dynamisch abgestufter packender Streicherläufern und schlagartiger Ausführung der grellen, prägnanten Holzbläsereinsätze, welche die reiche, bedeutungsstarke Instrumentierung hervorheben, hörte man aus dem Graben lediglich matte, unpräzise geformte Klänge.

Loading image...
Asmik Grigorian (Salome) und Kyle Ketelsen (Jochanaan)
© Monika Rittershaus

Salome ist ein Kind ihrer Mutter und ahmt sie nach, und wird so ganz wie die Mutter zur Kopfjägerin und damit zur Jägerin nach unerfüllten Wünschen. Der Kopf des Jochanaan zur Essenz dessen, was sie glaubt sich zu wünschen. „In der Welt gibt es nur zwei Tragödien. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man möchte, und die andere ist, es zu bekommen.“ Dieser Aphorismus Oscar Wildes scheint sich für Salome ebenso bewahrheitet zu haben.

***11