Barock-Star im Krisenmodus

Johannes Harneit, Christoph Klimke: Händel’s Factory

Theater:Staatsoper Hamburg, Premiere:04.11.2023 (UA)Vorlage:Georg Friedrich Händelns AuferstehungAutor(in) der Vorlage:Stefan ZweigRegie:Adriana Altaras Musikalische Leitung:Johannes Harneit

Mit überaus starker Besetzung inszeniert Adriana Altaras an der Staatsoper Hamburg die Uraufführung von „Händel’s Factory“. Händel steht selbst auf der Bühne und muss sich mit seiner größten Lebenskrise auseinandersetzen.

Man singt sich ein. „Oui-oui-oui-oui-oui“, so bringt Altistin Ida Adrian französelnd ihre Lippen in Form. Auch die Sopranistinnen Gabriele Rossmanith und Celine Mun sowie die beiden Sänger des Internationalen Opernstudios Aaron Godfrey-Mayes und Grzegorz Pelutis stolzieren in ihren barocken Kostümen herum. Sie geben Laut – bis der große Meister in seiner schon ziemlich abgenutzten Herrlichkeit auftritt: Georg Friedrich Händel. Er dirigiert wild drauflos, unterbricht die Musiker schroff, kritzelt Noten, bis die zwei konkurrierende Diven ihn schließlich mit ihrem forcierten Gesang in die Mangel nehmen. Der Komponist bricht schließlich vor Abscheu und Erschöpfung auf der langen, üppig gedeckten Tafel zusammen. Sie ist der einzige Einrichtungsgegenstand auf der Bühne der Opera Stabile, wo Johannes Harneits Musiktheater „Händel’s Factory“ in der Regie von Adriana Altaras seine Uraufführung feiert.

Adaption einer Zweig Novelle

Frei nach Stefan Zweigs Novelle „Georg Friedrich Händelns Auferstehung“ schrieb Christoph Klimke ein Libretto, das den Star-Komponisten der Barockzeit in seiner größten Lebenskrise zeigt. Im Frühjahr 1737 erlitt der erfolgsverwöhnte, überarbeitete Händel – nachdem das Londoner Publikum seinen italienischen Opern zunehmend die Gunst versagte – einen Schlaganfall. Niemand glaubte an eine Erholung, die dann aber überraschend eintrat. In Zweigs idealisierter Auslegung genas der Komponist durch die Arbeit an seinem einzigen rein geistlichen Werk: dem „Messiah“.

Das Ensemble versammelt am Festmahlstisch: Aaron Godfrey-Mayes, Celine Mun, Gustav Peter Wöhler, Gabriele Rossmanith, Grzegorz Pelutis. Foto: Hans Jörg Michel

Johannes Harneit komponiert für „Händel’s Factory“ keine neue Musik, sondern verknüpft Versatzstücke aus unbekannten und bekannten Händel-Werken zu einem Pasticcio – eine Arbeitsweise, die in den Jahrzehnten der Barockoper ihre Blütezeit erlebte. Trotzdem klingt einiges behutsam modern – etwa wenn die mobile Schlagzeugerin Lin Chen mit rhythmischen Kontrasten und Zäsuren die historische Klangwelt durchbricht. Die restlichen Musiker unter der Leitung des Komponisten sind auf vier Blöcke rund um das Spielfeld verteilt: Ein Streichquartett, ein Fagott, Cembalo und Kontrabass sowie Horn und Trompete. Sie sorgen für eine räumliche Verteilung der Instrumentenfarben, die das Spiel auf der Bühne mit dem um seine zentrale Achse drehbaren Tisch und den ständig wechselnden Perspektiven reizvoll unterstreicht.

Händel trifft Warhol

Als echter Glückstreffer erweist sich die Besetzung des dauergestressten, mürrischen Workaholic Händel mit Schauspieler Gustav-Peter Wöhler. Wöhler, der – wenn er halb entkleidet und mit zerzaustem Haar widerwillig in die Badewanne mit dem vermeintlich heilenden Schwefelwasser steigt – allen Geniekult rund um die Figur des großen Barock-Stars vergessen macht. Und doch geht es in Harneits ebenso kurzweiligem wie humorvollem Zugriff auf den Händel-Kosmos genau um diesen in einer rastlosen „Künstlerkommune“ produzierten Star-Kult. So erklärt sich auch die Engführung zweier historischer Epochen in den letzten Minuten des Stücks. Hier ist Schauspieler Andreas Seifert, der bis dahin in schöner Verschrobenheit Händel Komponistenfreund Johann Christoph Schmidt mimte. Zusätzlich überzeugt Seifert – wie Wöhler – auch singend und übt nun als Pop-Art-Ikone Andy Warhol den Schulterschluss mit seinem 200 Jahre älteren Kollegen.

Ähnlich wie der schrille Provokateur mit seiner berühmten „Factory“ in Manhattan, arbeitete auch Händel als sein eigener Produzent und Unternehmer am Mythos seiner Person. Das zumindest wird in „Händel’s Factory“ behauptet – mit so viel Spiellust und musikalischem Esprit, dass man es gerne glaubt.