Mächtige Gegner im Kampf der Systeme: „Boris Godunow“ an der Staatsoper Hamburg

Staatsoper Hamburg/BORIS GODUNOW/Ensemble/Foto @ Brinkhoff/Mögenburg

Die „russische Freiheitsstatue“, eine übergroße Plastik der russischen Bildhauerin Wera Muchina mit dem Titel „Arbeiter und Kolchosbäuerin“, thront mächtig über den Köpfen des Volkes, wird jedoch schnell von einer übergroßen Coca Cola-Flasche auf einem Louis Vuitton-Koffer verdeckt: Die Aussage ist eindeutig — der Westen triumphiert. Es ist ein überaus imposantes Schlussbild für Mussorgskys bekannteste Oper Boris Godunow, inszeniert vom Schauspiel-Regietheater-Altmeister Frank Castorf. (Rezension der besuchten Vorstellung v. 23.09.2023)

 

Die Hamburger Staatsoper setzte Boris Godunow zunächst im September 2020 an, doch die Corona-Einschränkungen verhinderten auch diese Premiere. Inzwischen sind drei Jahre vergangen und in Europa ist viel passiert. Der russische Angriffskrieg, so scheint es, facht das Feuer der Aktualität um Frank Castorfs Neuproduktion weiter an.

Mark Twain wird zugeschrieben, gesagt zu haben, dass sich Geschichte nicht wiederholt, sondern oft reimt und Karl Marx setzte dem Hegelschen Ausspruch, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen hinzu, dass er vergessen habe auszuführen: „Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Dass der Krieg in der Ukraine eine Tragödie ist, steht zweifelsohne fest und blickt man auf die ebenso illustre wie düstere Geschichte Russlands, stellt man – wenn auch oberflächlich betrachtet – schnell Parallelen, Wiederholungen und schockierende Ähnlichkeiten fest. Wieder entfachende Grenzkämpfe, eine terrorisierende Geheimpolizei, politische Gegner, die skrupellos aus dem Weg geschafft werden und scheinbar unstürzbare Herrscher, die ihr Land ohne Rücksicht auf Verluste regieren.

Staatsoper Hamburg(BORIS GODUNOW/Vitalij Kowaljow, Dovlet Nurgeldiyev/Foto @ Brinkhoff/Mögenburg

Sei es die real existierende Figur des Boris um 1600, die Russische Revolution oder eine von Terror bis Umgestaltungen geprägte Zeit des 20. Jahrhunderts von Stalin über Breschnew bis hin zu Gorbatschow, und letztlich die Jetztzeit mit Putin als nahezu ebenso schrecklichen Herrscher, wie es einige seiner Vorgänger vorgemacht haben – die russische Geschichte scheint übervoll mit brisanten Ereignissen, aus denen sich Castorf bedienen könnte. Doch trotz dieser Parallelen aktualisiert Castorf seinen Boris nicht bis ins Jahr 2023. Vielmehr suggeriert er historisierend die tatsächliche Biografie des Zaren und wirft mit seinen Schlussbildern jedoch einen langen Schatten in das 20. Jahrhundert voraus: Die stalinistische Schreckensherrschaft, den Einzug des Kommunismus, aber auch dessen bevorstehender Niedergang zugunsten kapitalistischer „Werte“ und Konsumgüter. Castorf gelingt es stets in großer Klarheit und unter Verzicht auf Provokationen die russischen Machenschaften und das Volksempfinden nachzuzeichnen. Seine Bildsprache ist gewaltig, beeindruckend und wirft Fragen nach der Korrumpierbarkeit des Volkes und die Legitimation politischer Macht auf. Sie schwankt zwischen eleganter Suggestion und messerscharfer Beobachtungsgabe. Aleksandar Denićs kongeniale Bühnenbilder könnten imposanter und hochwertiger kaum sein. Auch den Chor setzt Castorf eindrucksvoll in Szene, wobei dieser bewusst etwas statisch daherkommt: Die Inszenierung zeigt ein ideologisch starr dem Herrscher zugewandtes Volk, gefangen zwischen orthodoxem, gestrigen Konservatismus und der Angst vor Fortschritt und Neuerungen. „Mutter Russland“ ist ein Mythos, dessen Kern sich Castorf mit diesen Bildern anzunähern versucht.

Kent Nagano fand am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg durch intensive Lautstärke bei vollmundigem Streicherklang einen sehr direkten und klaren Zugang zur Partitur Mussorgskys. Die dargebotene Urfassung der Oper gebietet es jedoch, gerade das Schroffe der Komposition in seiner Unvollkommenheit herauszuarbeiten. Naganos Dirigat offerierte dabei zu wenig Aufwühlendes oder gar Umbrüchiges, auch weil ihm sein Orchester nicht sehr präzise zu folgen vermochte. Zu viele Soli-Läufe setzten in dieser Aufführung nur ungenau ein, im Tutti klang das Staatsorchester immer leicht unausgeglichen oder verwaschen. Ganz im Gegensatz dazu jedoch der Chor der Hamburgischen Staatsoper. Was dieser unter der Einstudierung von Eberhard Friedrich an Volumina, sprachlichen Feinheiten, Phrasierungskunst und Klangfarben preisgab, suchte wahrlich seinesgleichen. Auch die solistische Besetzung dieses Boris Godunow war unschlagbar und hätte an keinem anderen Opernhaus vortrefflicher sein können.

Staatsoper Hamburg/BORIS GODUNOW/Alexander Tsymbalyuk, Matthias Klink/Foto @ Brinkhoff/Mögenburg

In der Titelrolle sorgte ehemaliges Hamburger Ensemblemitglied Alexander Tsymbalyuk durch seine prachtvolle, klangfarbenreiche Bass-Stimme für Gänsehautmomente. Seine Interpretation stellte die Titelfigur eben nicht bloß als boshaft-durchtriebenen Herrscher, sondern als Machtmensch in all seinen Facetten dar. Ihm war glücklicherweise auch die von der Partie geforderte, ins Baritonale grenzende, Höhe gegeben. Im Sterben des Boris zeigte Tsymbalyuk, zu welch herzergreifenden Dramatik seine Stimme und Mimik in der Lage sind! In der Partie des Mönch Pimen stand Vitalij Kowaljow seinem Landsmann Tsymbalyuk – übrigens beides gebürtige Ukrainer und eben keine Russen – in nichts nach. Kowaljow bewies durch lediglich dezente, zugleich bewusste Gestik seiner Partie die darstellerische Tiefe zu verleihen. Seine Stimme klang dabei dunkel und direkt, manche Stellen phrasierte er mit einem angenehm-leichten Cantabile, stets würdevoll in seinem Ausdruck.

Matthias Klink konnte in seiner Partie des Gegenspielers als Coup dieser Premierenserie bezeichnet werden. Als Charaktertenor par excellence changierte er in sadistischen Zügen mit bissiger Stimmfarbe zwischen Unterwürfigkeit und Opportunismus. Mit warm-samtener Tenorstimme glänzte Ensemblemitglied Dovlet Nurgeldiyev in der Partie des Grigorij.

Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine stellten sich viele die Frage, ob russische Musik und insbesondere Boris Godunow als russische Volksoper noch gespielt werden darf. Frank Castorf setzt dieser Frage in seiner Inszenierung entgegen, dass Verbote redundant und unnötig sind. Seine Kunstsprache, die stets kritisch ist, lässt jeden Zweifel scheiden, sodass klar wird, dass diese Oper nicht nur gespielt werden darf, sondern geradezu gespielt werden muss!

 

  • Rezension von Alexandra und Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatsoper Hamburg / Stückeseite
  • Titelfoto: Staatsoper Hamburg/BORIS GODUNOW/Alexander Tsymbalyuk, Chor der Hamburgischen Staatsoper/Foto @ Brinkhoff/Mögenburg

 

 

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