Der Chor verkörpert die Wellen der Gezeiten in Venedig, im Vordergrund Matthias Koziorowski als Hoffmann. 
Der Chor verkörpert die Wellen der Gezeiten in Venedig, im Vordergrund Matthias Koziorowski als Hoffmann.
Oper Graz / Kmetitsch

Eine Automatenfrau. Eine Todkranke. Eine Kurtisane. Weil sich der Dichter Hoffmann an die Sängerin Stella (die ehemalige Geliebte singt "nebenan" im Don Giovanni) nicht mehr herantraut, flüchtet er in das Reich der Fantasie. Dorthin, wo ihn die fünfte Frau, die personifizierte Muse der Dichtkunst, ohnehin haben will: Hoffmann soll nicht lieben, sondern dichten ...

Mit einer in jeder Hinsicht fantastischen Produktion von Jacques Offenbachs Opéra-fantastique Hoffmanns Erzählungen eröffnet die Oper Graz die neue Spielzeit, die erste des neuen Intendanten Ulrich Lenz.

"350 Jahre Operngeschichte decken wir ab und weiten die Ränder aus", sagte Ulrich Lenz bei einem Pressegespräch. Neben Hoffmanns Erzählungen und Macbeth aus dem Kernrepertoire stehen etwa Schlaflos von Peter Eötvös, Die Nachtigall von Gorenska von Anton Foerster, Der Bürger als Edelmann von Molière/Lully, aber auch Venus in Seide des Grazers Robert Stolz auf dem Spielplan. Lenz hat mit Dirk Elwert auch einen neuen Ballettdirektor und mit Vassilis Christopoulos einen neuen Chefdirigenten mitgebracht.

Samtiger Sound

Die Eröffnungsproduktion leitete mit Johannes Braun der ebenfalls neue erste Kapellmeister des Hauses. Dieser scheint den Grazer Philharmonikern einen neuen Samtüberzug für den Sound mitgebracht zu haben: kammermusikalisch transparent bis wagnerisch opulent. Geschmeidig und punktgenau die Wirkung von Text und Gesang mit klangvollem Sound oder präzisen solistischen Glanzlichtern unterstreichend. Die bizarren oder diabolischen, die lächerlichen oder verletzlichen Charaktere mitgestaltend verstärkend: Das war exemplarisch.

Die Rahmenhandlung, erster und fünfter Akt, inszenierte Tobias Ribitzki. Roter Samt ist das signature piece für ein Theater auf dem Theater, in dem Hoffmann zugleich als Schöpfer am Rande und als Hauptfigur seiner drei Geschichten im Zentrum steht. Die Figur der Muse verwandelt sich, um in der Menschenwelt sichtbar auftreten zu können, in Hoffmanns treuen Begleiter Nicklausse. Da scheint mehr Gefühl im Spiel zu sein als nur die Liebe der Muse zum künftigen Werk.

Stimmliche Brillanz

Matthias Koziorowskis Hoffmann betört mit strahlend geschmeidigem Klang und technischer Souveränität. Ob angriffig, etwa im Lied vom Klein Zack, oder seine Damen sehnsuchtsvoll anschmachtend – ein Hoffmann aus dem Bilderbuch. Anna Brull stiehlt als La Muse / Nicklausse im schlichten schwarz-weißen Gewand (Kostüme: Silke Fischer) den spektakulären drei Damen stimmlich beinah die Show. Ihre Arien sind Höhepunkte.

Die britische Theatergruppe 1927 (mit Mehr als alles auf der Welt auch im Akademietheater) hat sich mit aberwitziger Opulenz und Manie zwischen Filmanimation und live acting der mechanischen Sängerin Olympia angenommen. So durch die Mangel gedreht hat noch keine Olympia den verblendeten Hoffmann wie dieses das Bühnenportal füllende Automatenwesen, das Tetiana Zhuravel mit stimmlicher Brillanz zum Leben erweckt.

Puppenspieler Neville Tranter hat den "Nebenfiguren" im Antonia-Akt – Crespel, Le Docteur Miracle und Frantz – lebensgroße Klappmaulpuppen zur Seite gestellt. Diese werden vom jeweiligen Sänger gemeinsam mit einem Puppenspieler geführt. Petr Sokolov, vom ersten bis zum vierten Akt als dämonischer Gegenspieler Hoffmanns präsent, brilliert tiefschwarz als Lindorf/Coppélius/ Dapertutto und Dr. Miracle. Bewegend ist Tetiana Miyus als Antonia.

Es glitzert und gleißt

"Venedig als solches", glitzerndes Wasser mit den Gezeiten an- und abschwellend im Mondenschein, hat die niederländische Choreografin Nanine Linning für den Giulietta-Akt auf die Bühne gebracht: abstrakt und sinnlich zugleich. Das Kleid der Kurtisane (Kostüme: Irina Shaposhnikova) und das Spiegelkabinett zum Raub von Hoffmanns Spiegelbild glitzern und gleißen. Als Grande Dame der Verführung betört Mareike Jankowski. Chor und Extrachor der Oper Graz sind blendend disponiert. Die markigen Trinkgesänge der Männer im ersten Akt überzeugen ebenso wie der geschwätzige Smalltalk im zweiten oder die Barkarole im vierten Akt. In Venedig hat der Chor auch eine darstellerische Aufgabe als Wellen der Gezeiten.

Am Ende ist der Dichter Hoffmann dort, wo er am Anfang war, einsam am Schreibtisch. Über Unvergänglicheres als Liebe sinnend. Bunt und grell. Traurig und schräg. Turbulent und bewegend. Bravi! (Heidemarie Klabacher, 2.10.2023)