Salome (Astrid Kessler, li.) mit Page (Stephanie Maitland)
Salome (Astrid Kessler, li.) mit Page (Stephanie Maitland) im verstaubt-eleganten Bühnenbild von Erich Wonder.
Volksoper Wien / Barbara Pálffy

Es war ein schweißtreibender, spannender Sommer in Salzburg. Mit seinem messianischen Innovationseifer flutete Gérard Mortier 1992 alle Bereiche des Festspieltankers. Die Billeteure – wer erinnert sich nicht? – trugen statt der karajanisch-mozartianischen Livree plötzlich profane schwarze Anzüge und wurden deshalb vom Publikum nicht mehr als solche erkannt. Zum Festspielfinale ließ der stets akkurat adjustierte Wirbelwind Messiaens Saint François d’Assise in der Felsenreitschule zu den Vögeln predigen. Gleich nebenan im Kleinen Festspielhaus wurde Johannes der Täufer enthauptet, zu den Klängen von Richard Strauss.

Ein 26-jähriger Bariton aus Wales wurde dabei um einen Kopf kürzer gemacht: Bryn Terfel am Beginn seiner Weltkarriere. Auftraggeberin des Mordes war Catherine Malfitano, nach der Einschätzung der Salome-Legende Ljuba Welitsch die "beste Salome aller Zeiten". Zu den Bildern von Luc Bondy leitete Christoph von Dohnányi die Wiener Philharmoniker zu Klangprunk, Zauber und drastischer Emotionalität an. Der reine Wahnsinn.

Familiendrama

Zu ihrem 125. Geburtstag im heurigen Dezember beschenkt die Volksoper sich selbst und ihr Publikum mit der Bondy-Inszenierung, die nach Salzburg auch in London, Brüssel und Mailand zu sehen war. Der internationale Erfolg amüsierte den (2015 verstorbenen) Regisseur, bekannte er doch danach, dass er die Oper "verabscheute" und Strauss’ Musik "entsetzlich" fand.

Frühen sexuellen Missbrauch, wie in Cyril Teste in seiner im Februar gezeigten Salome-Inszenierung an der Wiener Staatsoper herausgestellt hatte, wusste Bondy an der Titelfigur nicht zu diagnostizieren. Der Schweizer zeigte das 1905 uraufgeführte Stück als Familiendrama und die Tochter des Hauses als "ein Mädchen, das seine Eltern nicht länger im Griff haben".

Durchsetzungsfähiger Sopran

Nachdem Volksoperndirektorin Lotte de Beer eine Umbesetzung angesagt und dem Publikum vor Beginn der Rachetragödie "viel Spaß" gewünscht hatte, gab Astrid Kessler der dynamischen Unkontrollierbarkeit der Titelfigur im verstaubt-eleganten Bühnenbild von Erich Wonder glaubhaft Ausdruck. So durchsetzungsfähig wie Salomes Naturell war auch der Sopran des Gastes aus Mannheim.

Gut so: Denn im Orchestergraben setzte Noch-Volksopern-Musikdirektor Omer Meir Wellber auf Überwältigung und ließ die emotionalen Wogen fast nonstop hochgehen.

Man hatte den Eindruck, der 41-Jährige dirigierte nicht mit einem Taktstock, sondern mit Peitsche und Zaunpfahl. Man hörte eine Salome im 90-Minuten-Schnelldurchlauf (sogar der eilige Georg Solti hat zehn Minuten länger gebraucht). Atemlos durch die Vollmondnacht. Wellber gewährt dem emotionalen Pandämonium in Strauss’ Partitur ungezügelten Auslauf, im Hintergrund des engagiert aufspielenden Orchesters hätte man den Sängern Schalltrichter zur Hand gewünscht.

Gewalttätige Dynamiken

In die gewalttätigen Dynamiken des Abends integrierte sich Tommi Hakala als Jochanaan mit athletischem Vokalgebaren und eher ungehobeltem Timbre vorzüglich. Ein eindrucksvoller Auftritt: Kaum einer taumelt kraftstrotzender herum als der Finne. Den Herodes von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, an der Staatsoper Mister Wortdeutlichkeit, hätte man gern noch ein paar Nuancen in Richtung Charaktertenor bugsiert.

Als Herodias machte Ursula Pfitzner optisch fast mehr Eindruck denn stimmlich – aber der Look von Susanne Raschig (Kostüme) war auch wirklich trés elegant. JunHo You war ein Narraboth mit einem Tenor aus hellem Metall, und die fünf Juden debattierten lautstark über Gott und die Welt.

Am Ende führte Marie-Louise Bischofberger-Bondy, die für die szenische Einstudierung zuständige Witwe des Regisseurs, den fast 80-jährigen Erich Wonder und das restliche Produktionsteam dem Jubel des Publikums zu: eine Premierenwonne fast wie damals. (Stefan Ender, 17.9.2023)