Na, immerhin wissen wir nun, dass Barrie Kosky den Zwerg Alberich für keine Judenkarikatur Richard Wagners hält. Denn der, zunächst im grauen Businessanzug, später dann – nach amourösen Gefechten mit den nuttigen Rheintöchtern in schwarzer Spitze – im Spitzenunterrock, bekommt von denen auch noch den (künstlichen) Schniedel freigelegt: eindeutig unbeschnitten. Das Londoner Publikum am Royal Opera House, wo mit diesen „Rheingold“ ein neuer „Ring des Nibelungen“ startet, hebt natürlich sofort die Operngucker.
Aber wollten wir das wirklich wissen? Eindeutig nicht. Genauso wenig, wie es einen Sinn hat eine uralte, nackte Erda vom Ursprung der Welt an, noch vor dem ersten Kontrabass-Es also, andauernd auftreten zu lassen, um als Kronzeugin den Rest der Tetralogie – natürlich stumm – zu „erzählen“.
Die über 80-jährige Rose Knox-Peebles steht dann eben doch meist nur als erschreckendes wie verschrecktes Memento Mori herum, und wir können ausführlich ihre schlaffe Haut bestaunen. Und wenn Erda wirklich präsent ist, ihren Fünf-Minuten-Auftritt am Ende hat, dann harrt sie überraschungslos im Halbschatten, und Wiebke Lehmkuhl tönt fülligschlank aus dem Dunkel.
Der Anfang vom Ende, das ist das „Rheingold“ und so ist auch die Werkwahl von Antonio Pappano zu verstehen. Der vielgeliebte Covent-Garden-Musikchef eröffnet seine 22. und letzte Spielzeit mit einem neuen „Ring“, seinem zweiten am Haus. Jede Saison, bis 2026/27, wird ein weiterer Teil folgen, bis anschließend sein ab 2025 berufener Nachfolger, der bisher eher als Konzertdirigent aufgefallene Jakub Hrůša (er hat nur eine einzige Wagner-Oper, den „Lohengrin“, dirigiert), tollkühn die Komplett-Zyklen übernehmen soll.
Der Mann ist Oper
Pappano ist diesen „Ring“ auch wert. Sein ganz aus einer zupackenden, praxisnahen Theatralität geschnittener Zugang – vital, beweglich, farbig, griffig – versteht Wagner in erster Linie als Dramatiker, nicht als diffusen Mystiker. Hier wird glanzvoll mit musikalischen Mitteln erzählt, beschrieben, vorangeschritten. Bei Pappano erklingt jedes Motiv wie ausgestanzt, schlüssig, aber ohne Zeigefinger. Er ist ganz nah dran am Konversationsstück, jeder Impuls geht von ihm aus. Und das Orchester folgt ihm glorios, klangprall, aber nie mit Überdruck. Dieser Mann kann wirklich, er ist Oper.
Dem steht freilich eine mittelmäßige, meistenteils ziemlich unverständliches Wagner-Deutsch parlierende Sängerbesetzung gegenüber. Erfreulich klingen noch die Rheintöchter Katharina Konradi (Woglinde), Niamh O’Sullivan (Wellgunde) und Marvic Monreal (Floßhilde), hier freilich weniger Nixen als Dryaden, weil sie wasserlos ihre Köpfe aus den Astlöchern der schwarzversteinerten Welteschetrümmer stecken.
Dann folgt der alerte, gut spielende Christopher Purves als Alberich, der sich nach dem Rheingold als goldene Sauce verzehrt: Ist es Baumharz? Oder die Milch aus Erdas dürren Brüsten, die ihr später in Nibelheim in einer stampfenden Maschine abgemolken zu werden scheint? Jedenfalls singt Purves kaum, er spricht meist rau und schrill.
Koskys „Ring“-Klammer – visualisiert durch Rufus Didwiszus (Bühne), Victoria Behr (Kostüme) und Alessandro Carletti (Licht) – vom „Traum der Erdmutter Erda, die vor 4,6 Milliarden Jahren unsere Heimat gebar und, wenn sie nicht gerade Wotans Bastarde zur Welt brachte, der Verwüstung ihres ersten Kindes zusah“, sie geht schon im „Rheingold“ so gar nicht auf. Zunächst ist da der nüchterne Theaterraum, in dem die rauchenden Baumtrümmer unter Tüchern liegen.
Wotan hat zu wenige Farben
Sie werden später von schwarzen Wänden abgeschlossen. Und obwohl der Vorhang zu jeder der drei Verwandlungen fällt, ist da immer wieder, egal ob Grund des Rheins, freie Gegend auf Bergeshöhen oder Nibelheims Klüfte, nur die Weltesche zu sehen. Sehr öko, ok, aber eher sinnfrei.
Die Götter, sie sitzen in Jagdkleidung als Landadelige wie in der Glyndebourne-Opernpause beim Picknick. Erda ist jetzt das (bekleidete) Servierfräulein. Man streitet wonniglich, das kann der kluge Personenführer Kosky in seinem zweiten „Ring“-Anlauf (nach Hannover und einer Essener „Götterdämmerung“) sehr gut, aber der bullige Wotan von Christopher Maltman hat viel zu wenige Vokalfarben. Marina Prudenskajas Fricka keift essigsauer. Der Loge von Sean Panikar ist überpräsent mit wenig Stimme, ebenso stimmwitzig oder überreif (Freia) die „kleinen“ Götter samt Clan-Brüder-Riesen.
In Nibelheim wuseln die Nibelungen als Kinderzwerge mit Groteskköpfen und weiteren Eimern um einen muskelriesigen Mime (Brenton Ryan). Der Tarnhelm ist ein goldener Unterkiefer als eine Art Fetischwerkzeug, der freilich statt Riesenwurm und Kröte nur goldene Hände gebiert. Und zum Einzug nach Walhall gibt es statt der alten, aber überkomplexen Baupläne aus der zweiten Szene nun den leeren Raum, in den Kosky mal wieder regenbogenbunte Glitzerkonfetti rieseln lässt. Dazu tanzen die Götter, auch Wotans Speer ist nur ein dürrer Eschenast, in Brokatkleidern.
Die Weltesche wird in der „Walküre“ wiederkommen, die nackte Erda sicher auch. Aber wie diese neuerliche Kosky-Tetralogie sinnstiftend weitergehen soll, das steht erst mal vage in den britischen Wagnersternen. Und während man sich immer noch über den angeblich konzeptüberlandenen Bayreuther „Ring“ ereifert, wirkt dieser Londoner Anfang ziemlich unterkomplex.
Am 20. September ist dieses neue „Rheingold“ in 800 Kinos weltweit als Live-Übertragung zu sehen.