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Die ersten Menschen

Oper in zwei Aufzügen
Text von Otto Borngräber nach seinem gleichnamigen Erotischen Mysterium (UA 1912)
Musik von Rudi Stephan

in deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h30' (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Frankfurt am 2. Juli 2023
(rezensierte Aufführung: 17.07.2023)



Oper Frankfurt
(Homepage)
Familien-Dystopie

Von Christoph Wurzel / Fotos: © Matthias Baus

Die Uraufführung seiner Oper im Jahre 1920 am Frankfurter Opernhaus hat Rudi Stephan nicht mehr erlebt. Im 1. Weltkrieg ist er mit 28 Jahren im September 1915 bei Tarnopol in Österreichisch Galizien gefallen. Entsprechend schmal ist sein Œuvre, das gerade einmal drei größere Orchesterwerke, ebenso viel Kammermusik und ein Orchesterlied umfasst und eben die Oper Die ersten Menschen. Stephan ist zwar kein ganz Vergessener in der Musikwelt, immerhin gab es in den letzten Jahren z.B. Aufführungen seiner Orchesterwerke durch die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko, aber den ihm eigentlich zustehenden Platz im Konzertbetrieb nimmt er nicht ein. Wie spannend, expressiv und unmittelbar seine Musik ist, bewies jetzt die Neuproduktion der Oper in Frankfurt, die damit das Werk an seinen Ursprungsort zurückgeholt hat. Sebastian Weigle setzte es ausdrücklich an das Ende seiner 15jährige Amtszeit dort als GMD. Und wie Recht er damit hatte, bewies diese Produktion, die vom Publikum frenetisch gefeiert wurde.

Dass Rudi Stephans Oper nur wenige Inszenierungen überhaupt erlebt hat (drei in den 1920gerJahren und nur drei nach dem 2. Weltkrieg, davon die jüngste vor 2 Jahren in Amsterdam), erscheint wegen der überaus farbigen Musik unverständlich, umso einleuchtender aber wegen des aus mehreren Gründen sonderbaren Librettos des gleichnamigen Stücks von Otto Borngräber, der sein Drama als "Erotisches Mysterium" betitelte. Borngräbers gemixte Weltanschauung aus freigeistiger Religionskritik, Freudianischer Sexuallehre und dem Monismus Erich Haeckels, der die Welt auf ein einziges Grundprinzip zurückführt, geriet bei der Uraufführung 1912 in München zu einem Skandal. Das Stück wurde danach in Bayern von der Zensur verboten.

Borngräbers Hang zu prätentiös expressiver Sprache und zu plakativ verkürzten Sentenzen machen den Text recht unverdaulich. So greift er auf die angeblich hebräische Urform der biblischen Namen zurück: Eva heißt hier Chawa, Adam ist Adahm und Kain und Abel nennt er Kajin und Chabel. Die biblische Überlieferung interpretiert Borngräber ganz im Sinn seiner Anschauungen um. Die Handlung lotet Konflikte einer Kleinfamilie aus, die hier zwei Dimensionen haben: brennendes, unerfülltes erotisches Verlangen und die Frage nach Gott.

Natürlich siedelt das Libretto die Handlung in einer gedachten Urlandschaft an, wo die vier ersten Menschen in einer Erdhöhle leben und mühsam die steinige Erde beackern. Ansonsten herrscht nur unendliche Leere des Raums.

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Die scheinbar heile, paradiesische Welt der Vergangenheit: Chawa (im Film: Ambur Braid) und Adahm (Andreas Bauer Kanabas)

Tobias Kratzer zeigt mit seiner Begabung, die Gegebenheiten von Opernstoffen konsequent auf ihre Bedeutung im Hier und Heute zu befragen, die Grundsituation der Ersten Menschen als die einer in Vielem typischen Kernfamilie der Gegenwart. Längst sind sie aus dem Paradies vertrieben und es sieht aus, als seien sie die letzten Menschen nach einer großen Katastrophe. Die Vergangenheit lebt als nostalgische Erinnerung in einem Super-8-Film weiter, heiles Familienleben mit Kinderplanschen und Kaffeerunden. Für die Zukunft stapeln sie endlose Vorräte von Lebensmitteln in den Regalen. An den Fenstern klebt die Fototapete einer Ideallandschaft mit grünen Wäldern und fruchtbaren Feldern. Aber in der kleinbürgerlichen Wohnküche beackert Adahm mühsam lediglich eine kleine Anzuchtbox und zieht darin Pflanzzögline auf.

Im zweiten Akt erst ermessen wir, welche zerstörerische Katastrophe hinter der Familie liegt. Er führt nach draußen in die Welt der Vergangenheit, jetzt eine vollkommen unwirtliche Landschaft aus verkohlten Baumstümpfen. Ein ausgebranntes Auto steht herum, eine demolierte Kinderschaukel, ein zerrissenes Plastikbassin. Aus ihrem unterirdischen Bunker müssen sie mit Gasmasken in diese lebensfeindliche Welt klettern.

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Hinaus aus dem Bunker bedeutet in eine lebensfeindliche Welt: Ambur Braid (Chawa) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm)

Die Beziehungen der Figuren sind aufs Äußerste angespannt. Chawa, Hausfrau in Kittelschürze, sehnt sich heftig nach der körperlichen Liebe ihres Mannes, er sei kalt und abweisend geworden. Sie wünscht sich ein weiteres Kind, nachdem sie sich den heranwachsenden Söhnen entfremdet hat. Adahm hat sich als Realist in die Situation gefügt. Sein Lebensinhalt ist Arbeit, der Vergangenheit aber trauert auch er nach, wenn er allein ist. Die beiden Söhne könnten nicht unterschiedlicher sein. Kajin ist seinem unbefriedigten Sexualtrieb ausgeliefert, in einem Anfall von überschießender Libido will er über seine Mutter herfallen, in sexueller Übererregung masturbiert er und im Wahn nach dem Brudermord entmannt er sich am Schluss selbst. Kratzer zeigt dies extrem deutlich und drastisch, kompromisslos naturalistisch, was im Publikum nicht nur goutiert wurde.

Chabel, der Jüngere, ist auf der Suche nach Höherem. Er meint Gott gefunden zu haben, phantasiert von spiritueller Erweckung, steigert sich im Laufe der Handlung immer mehr in religiöse Wahnvorstellungen hinein und opfert am Ende des ersten Akts seinem Gott ein lebendes Lamm. Chawa und Adahm lassen sich von diesem Gefühlsüberschwang mitreißen und man spürt einen Moment lang, was "Religion als Opium des Volks" bedeuten kann. Kajin, der Nihilist, widerspricht vehement und attackiert Chabel, der mit blutigen Händen vor ihm steht, mit einer sehr modernen Formel: "Du hast deinen Bruder getötet". Zwingend hat Kratzer diesen Konflikt, auch manche archaische Seite von Religionspraxis, als einen grundlegenden unserer Zeit herausgearbeitet.

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Chabel opfert seinem Gott ein Lamm: Ian Koziara (Chabel)

Im zweiten Akt verbinden sich Religion und Sexualität. Denn im weiteren Verlauf blähen sich die spirituellen Erweckungsgefühle von Mutter und Sohn zu einer religiösen Ekstase auf, die in einen Geschlechtsakt mündet. Kajin erwischt beide in flagranti und tötet im Eifersuchtsrausch seinen Bruder unter einer brutalen Klangeruption des Orchesters. So wird der Brudermord hier, ganz anders als in der Genesis, durch den Neid auf die sexuelle Erfüllung des Bruders motiviert.

Der Schluss ist dann fast kitschig. In einer Art Verkündigungsszene prophezeit Adahm, dass nach dieser menschlichen Katastrophe eine neue Zeit kommen werde und neue Generationen "strahlen werden wie Sterne". Diesem pathetischen Fortschrittsglauben widerspricht Kratzer deutlich, indem zwar Menschen plötzlich aus dem Dunkel der Bühne hervortreten, aber als ebenso verelendete, ratlose und traurige Figuren, wie die vier ersten Menschen es sind.

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Brudermord in katastrophischer Landschaft: Ian MacNeil (Chain) Ian Koziara (Chabel) und Ambur Braid (Chawa)

Für diese immens dramatische Handlung hat Rudi Stephan eine hochexpressive Musik geschrieben. Für jede Situation hat er mit großer Farbpalette einen atmosphärisch dichten Klang gefunden. Instrumente in fast exotischer Verwendung unterstreichen dies: ein Altsaxophon für das Aufsteigen sexueller Begierden bei Kaijn, eine Gloriole liegender Streicherakkorde, Celesta und Orgel und einen schrillen Pfeifton der Piccoloflöte für die religiösen Visionen Chabels. Ein fast romantischer Klang umgibt die Sehnsüchte Chawas, den ruhigen Adahm moderate Linien aus Streicher- und Bläserklängen. Eine dissonante Klangkonvulsion illustriert den Moment der Opferung und den Schluss charakterisieren harmonisch feierliche Dur-Klänge. Sebastian Weigle arbeitet die hohe Expressivität dieser Musik außerordentlich spannend heraus.

Alle vier Gesangpartien sind ungewöhnlich anspruchsvoll. Oftmals fordern sie eine schier explosive Ausdrucksintensität. Beeindruckend meistern die Sängerinnen und Sänger ihre Partien; mit kleinen Einwänden allerdings was Ian Koziara als Chabel betrifft, der die extremen Höhen der Partie leider nur etwas angestrengt bewältigt. Ambur Braid als Chawa hat ebenfalls eine Rolle mit sehr hoher Tessitur und reizt in der Höhenlage die Stimme bis zur Schärfe aus, freilich durchaus passend zur Seelenlage ihrer Figur. Ian MacNeil ist in der Rolle des anarchisch-egoistischen Kajin grandios als Darsteller und füllt die Partie bis hin zum herausgeschleudert Gesprochenen stimmlich exzellent aus. Andreas Bauer Kanabas als Adahm beeindruckt durch vokale Klarheit und absolute Textverständlichkeit.

FAZIT

Zum Abschluss der Ära Sebastian Weigle ist der Frankfurter Oper mit Rudi Stephans Die ersten Menschen eine großartige Wiederentdeckung gelungen. Szenisch besticht die Produktion durch packenden Realismus und ein Regiekonzept, das aus der Oper Fragen für heute entwickelt. Das Solistenensemble verdient hohe Bewunderung für die Bewältigung ungewöhnlich schwieriger Partien.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Sebastian Weigle

Inszenierung
Tobias Kratzer

Bühnenbild und Kostüme
Rainer Sellmaier

Licht
Joachim Klein

Video
Manuel Braun

Dramaturgie
Bettina Bartz
Konrad Kuhn

 

Frankfurter Opern- und
Museumsorchester

Statisterie der Oper Frankfurt


Solistinnen und Solisten

Adahm
Andreas Bauer Kanabas

Chawa
Ambur Braid

Kajin
Ian MacNeil

Chabel
Ian Koziara

 


Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Oper Frankfurt
(Homepage)







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