Oper Frankfurt :
Das Verhängnis

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Todessehnsucht, aber nicht aus dem Billy-Regal von Ikea: Die Frankfurter Inszenierung von Frank Martins Oper „Le vin herbé“
Liebe als Absturz, Tod in der Stille: Die Oper Frankfurt zeigt „Le vin herbé“ von Frank Martin in Tilmann Köhlers zarter, strenger Regie.

Vor zwanzig Jahren kam der Filmessay „Ewige Schönheit“ von Marcel Schwierin in die Kinos. Er beschäftigte sich mit „Todessehnsucht und Film im ,Dritten Reich‘“. Die melodramatischen Filme jener Zeit, übrigens nicht nur aus nationalsozialistischer Produktion, waren voll von erotischer und sinngebender Aufladung des Todes. Diese Erhabenheit des Selbstopfers gehört freilich zum Kern der Tragödie – im Sprechtheater genauso wie in der Oper. Man kann nicht allein Richard Wagner für die Überhöhung des Todes verantwortlich machen, doch hatte er 1857 in „Tristan und Isolde“ alle Mittel von Sprache und Musik so hoch konzentriert, dass hier der Tod, der „Liebestod“, das größte Glücks- und Sinnversprechen abgab, das man bislang gehört hatte.

In diesem zeitlichen Umfeld einer ideologischen Benutzung von künstlerisch erzeugten Glücksverlockungen des Todes schuf der Schweizer Komponist Frank Martin von 1938 bis 1941 „Le vin herbé“ nach der mittelalterlichen Legende von Tristan und Iseut, wie sie im Jahr 1900 von Joseph Bédier in einem Roman, getreu den alten Quellen, aufgeschrieben worden war. Auch wenn eine Gattungsbezeichnung fehlt und das Stück 1948 bei den Salzburger Festspielen szenisch aufgeführt wurde, handelt es sich doch um ein Oratorium. Und wenn es nicht wiederum eine sprachliche Überhöhung wäre, könnte man von diesem Oratorium sagen, dass es dem Tod seine Unschuld zurückgebe. Zumindest wird hier nicht die Wollust der Selbstaufgabe geschürt, findet hier keine Heroisierung des Einzelschicksals im Dienste einer höheren Kollektividee statt. Ergreifend ist das Stück trotzdem: wegen seiner konzentrierten Inständigkeit, seiner zarten Anspannung und seiner Kunst, aus der Trauer kein Geschrei zu machen.

Nachgeholt aus Corona-Zeiten

Die Oper Frankfurt zeigt „Le vin herbé“ zum Ende dieser Spielzeit nun in wenigen Aufführungen als nachgeholte Premiere. Ursprünglich hatte sie am 20. November 2020 stattfinden sollen, aus Gründen des Schutzes vor Corona damals bereits eingewechselt für Alexander Zemlinskys „Traumgörge“. Bis zur Generalprobe hatte es die Inszenierung von Tilmann Köhler noch geschafft – dann fiel die Premiere dem neuerlichen Lockdown zum Opfer.

Man sieht dem Bühnenbild von Karoly Risz die Entstehungsumstände an, muss aber zugleich bei ihm wie bei Köhler bewundern, zu welch kreativen, künstlerisch sinnvollen Lösungen die damaligen Hygieneverordnungen geführt haben. Risz schuf zwei Menschenregale mit je sechzehn Fächern. Sie bilden zusammen die Form eines aufgeklappten Buches, was an den Roman als Vorlage erinnert. In den einzelnen Regalzellen singen die vierundzwanzig Choristen und die acht Solisten quasi verschachtelt und vor Aerosolen geschützt. Die epische Brechung der traurigen Geschichte von der unmöglichen Liebe zwischen Tristan und Iseut wird so noch verstärkt. Handlung wird auf die ausdrucksstarke, aber stilisierte Gestik der einzelnen Solisten reduziert, auf wechselnde Farben in den von Susanne Uhl entworfenen Kostümen und auf ein Minimum an Zusammenspiel auf der Vorderbühne, wenn etwa Kihwan Sim als König Marc sein Schwert zwischen das schlafende Liebespaar rammt – als Zeichen der Vergebung dafür, dass sein Neffe Tristan ihm die Frau Iseut entführt hat.

Große Chorleistung

Wie schon zum Ende der vergangenen Spielzeit, als der Chor der Frankfurter Oper in Luigi Dallapiccolas „Ulisse“ Zwölftonmusik mit einer Mühelosigkeit sang, als handelte es sich um Silcher-Sätze von deutschen Volksliedern, bewegt er sich auch jetzt, einstudiert von Tilman Michael, mit Leichtigkeit, plastischer Deklamation und einer von Diskretion gedeckten Ausdrucksstärke durch Martins Musik. Mit Clara Kim als Branghien, Claúdia Ribas als Mutter von Iseut der Blonden und Jarrett Porter als Herzog Hoël haben Mitglieder des Opernstudios Gelegenheit, sich dem Publikum solistisch vorzustellen, was sie allesamt vorteilhaft nutzen. Theo Lebouw als Kaherdin, Juanita Lascarro als Iseut die Blonde, Cecilia Hall als Iseut die Weißhändige und Rodrigo Porras Garulo singen mit jugendlich schlanken, aber eindringlichen Stimmen, die dem Schmerz mit Würde nachspüren.

Takeshi Moriuchi leitet das kleine Ins­trumentalensemble aus sieben Streichern und Klavier mit großer psychologischer Sensibilität. Denn bei Martin findet die Textausdeutung weniger durch die streng syllabische Deklamation oder durch die Harmonik statt, sondern vor allem durch die Rhythmik der Begleitfiguren. Hier hört man das Fließen und Stocken, das Schaukeln und Schreiten, das Schweben und Beben der Schiffe, Leiber und Herzen. Großartig ist das nüchtern-kalte Wirbeln der Instrumente nach der chorischen Erkenntnis: „Iseut liebte ihn.“ Da wird von keinem Glück erzählt, sondern von einem Verhängnis, vom Sturz ins Nichts, von der Zerstörung moralischer Integrität. Wenn Tristan in dieser zarten, strengen Inszenierung singt: „Komm denn, Tod“, hat er eine Gefasstheit, die stiller und zusammengeraffter ist als jene Johann Sebastian Bachs. Diese fast mönchische Inbrunst des Sterbens ist im Grunde an kein Publikum mehr adressiert.