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Die Protagonistin steht in einem an ein Spiegelkabinett mit fremdartigen Pflanzen erinnerndes Bühnenbild einer fast spiegelbild-ähnlichen Frau gegenüber.

„Picture a Day Like This“: Die Protagonistn (Marianne Crebassa) steht im Zaubergarten Zabelle (Anna Prohaska) gegenüber.

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Uraufführung von George Benjamin: Volltreffer zum Festspielauftakt in Aix-en-Provence

Vorspann / Teaser

Es ist schon ein beachtliches Jubiläum: es sind die 75. Opernfestspiele in Aix-en-Provence. Trotz Corona-Nachwirkungen und aktuellen Unruhen in den französischen Metropolen ist die Stadt im Festspielmodus. Man kommt zwar nach 21.00 Uhr nicht mehr mit dem Bus vom  weit außerhalb gelegenen TGV-Bahnhof in die Stadt und die Festspiele selbst entfalten unter Pierre Audi längst nicht mehr den Glamour wie unter Stephane Lissner. Aber es gilt ja eh mehr der Kunst und für den Rest sorgen der Charme der Stadt, die Landschaft und das Wetter.

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Eröffnet wurden in diesem Jahr – warum auch immer – nicht mit Mozarts Cosi oder Bergs Wozzeck, sondern mit Kurt Weills und Bert Brechts „Dreigroschenoper“. Der ersten wirkliche Höhepunkt kam erst am zweiten Abend im historischen Théâtre du Jeu de Paume: die Uraufführung von „Picture a Day Like This“ des britischen Siemens-Musikpreisträger George Benjamin (63) und seines Librettisten Martin Crimp. Der Verdienst, diesem Gespann eine große Bühne verschafft zu haben, gebührt Pierre Audis Vorgänger Bernard Foccroulle. Benjamins „Written on Skin“ war 2012 die überzeugendste Produktion des Festivals und einer der größten Novitäten-Erfolge der Ära Foccroulle. Dieses Werk hat von Südfrankreich aus den Sprung ins internationale Repertoire geschafft. Auch der kleinformatige, nur gut eine Stunde dauernde neue Einakter des Gespanns hat dafür die besten Chancen.

Das liegt an der märchenhaft überzeitlichen, aber doch für Menschen auch heute zentralen Geschichte von Martin Crimp, vor allem aber an der sinnlich unwiderstehlichen, auf die menschliche Stimme gesetzten Musik Benjamins. Der dirigierte die Uraufführung selbst, also „authentisch“ und die 22 Musiker des Mahler Chamber Orchestra folgte seinen Intention ebenso willig, wie das erstklassige Protagonisten-Ensemble. Dass die Inszenierung, Bühne und das Licht für die Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma sorgten, und zu denen Maria La Rocca die Kostüme und Hicham Berrada die Videos beisteuerten, in ihrer eleganten Kargheit wie maßgeschneidert zur suggestiven Diktion der Musik passten, das war in diesem Falle noch das Sahnehäubchen obendrauf.

Jeanneteau und Soma hatten schon Brittens und Crimps erste Oper „Into the Little Hill“ inszeniert.

Diesmal geht es um eine Frau, die ihr Kind verloren hat und den Verlust nicht akzeptieren kann. Ihr wird gesagt, dass ihr das Kind zurückgegeben wird, wenn sie von einem glücklichen Menschen irgendeinen Knopf bekommt. Crimp hat sich bei der Geschichte von einer alten europäischen Satire, in der ein Herrscher dem Tod entgeht, wenn er das Hemd eines glücklichen Mannes findet, und von einer buddhistischen Geschichte inspirieren lassen. Sein gleichnishaftes Märchen einer Selbsterfahrung ist von schlackenloser, dichter Poesie.

Das Problem – so zeigt sich – sind weniger die Knöpfe, als das Glück der Menschen. Die Begegnungen, die die Frau hat, erinnern von Ferne an die verschlossenen Türen in Blaubarts Burg. Jede verheißt eine schnelle Lösung, erweist sich aber immer als Trugschluss, denn was nach Glück aussieht, ist es nicht.

Als erstes begegnet sie einem Liebespaar, das gerade miteinander beschäftigt ist. Beide bekunden, wie glücklich sie sind. Sie wollen ihr einen Knopf geben, doch als der Liebhaber davon erzählt, dass er mit Frauen, Männern und „with people in between“ schläft und obendrein den Vorschlag macht, die Frau solle doch mitmachen, kommt es zwischen dem Paar zu einem heftigen Streit, ja zum Bruch. Sopranistin Beate Mordal und der Counter Cameron Shahbazi, die auf einem Liebeslager auf die Spielfläche gleiten, das an das berühmte Aktfoto von Jeff Koons und Cicciolina erinnert, verschlingen auch ihre Stimmen in betörenden Höhenflügen miteinander.
Auf der zweiten Station ihrer Suche begegnet sie einem Kunsthandwerker, einem Knopf-Künstler, der wie ein Kunstobjekt selbst in einer Vitrine sitzt und dessen Kleidung mit unzähligen Knöpfen übersät ist. Doch er erweist sich als Verfluchter, der nicht sterben kann. Bariton John Brancy setzt dafür alle Register seiner wohltimbrierten Stimme, inklusive atemberaubender Ausbrüche in der Höhe, ein. Die Begegnung mit ihm gleicht für die Frau einem Verdursten inmitten von Wasser.

Wo sind all die glücklichen Menschen?

Die nächste Begegnung hat wieder einen ähnlich dezent bitteren Witz wie die erste mit dem Liebespaar. Beate Mordal und der Cameron Shahbazi sind jetzt eine erfolgreiche Komponistin und ihr Assistent. Beide sind voll auf sich und die telefonischen Kontakte nach Tokio, Rom und Mailand fixiert. Als die Frau auf sie zugeht, wimmeln sie zunächst einen vermeintlichen Interviewversuch ab. Als sie dann doch von ihrem Schicksal und ihrem Wunsch erzählen kann, fehlen der Komponistin dafür die Worte und jede Empathie – beide suchen das Weite.
Nach dieser Begegnung ist der Protagonistin eine große Klagearie vorbehalten. Auch da läuft die durchweg vokal hochpräsente und mit ihrer glaubwürdigen Verzweiflung charismatische Marianne Crebassa zur Hochform auf. Nicht nur ihre Partie ist ein exemplarischer Fall von auf die Stimme komponierter Musik!

Später trifft die Frau auf einen Sammler (wieder John Brancy), der stolz auf seine Kollektion von Meisterwerken der Malerei ist und ihr auch geben will, was sie verlangt. Der Haken ist bei ihm, dass er nur dann glücklich ist, wenn sie ihn lieben würde. Schließlich weist er ihr den Weg in einen Zaubergarten voller aparter Schönheit. Dort findet sie Zabelle, ein Wesen, das ihr selbst ähnlich ist und das jede Berührung verweigert. Auch Anna Prohaska überzeugt als vokales und darstellerisches Spiegelbild der Heldin der Geschichte. Zabellas „Ich bin nur deshalb glücklich, weil ich nicht existiere“ ergießt sich wie eine schwer errungene Selbsterkenntnis über alles. Die Pointe der Hoffnung freilich ist ein Knopf, den die Frau plötzlich in Händen hält, als der Garten und Zabella längst im Nichts entschwunden sind.

Benjamin setzt bei jeder Szene mit genau dosierten Mitteln an und hält mit untrüglichem Sinn für das rechte Zeitmaß für diese Art Selbsterkenntnismusik, die Spannung. Für die Zuhörer und wohl auch für die Protagonisten sind alle Gesangspartien ein Fest. Der Jubel war hier ungeteilt und durch nichts getrübt.

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