Oper Frankfurt :
Krachender Schock des Tötens

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Ersatzhandlung: Kajin (Iain MacNeil , links) randaliert, Adahm (Andreas Bauer Kanabas) hat ihn nicht im Griff.
Fünfzehn Jahre war Sebastian Weigle Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt. Jetzt nimmt er mit den betörenden Klängen von Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ seinen Abschied vom Haus.

Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, diesem freilich schon: Die linde Luft hebt leise an zu klingen in den vielfach geteilten hohen Streichern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters. Das feine Gespinst der leeren Quinte f-c macht den Odem des Lebens hörbar, den alle Kreatur in sich einsaugt. Dann setzt das biegsame Englischhorn ein, gleitet langsam nach unten und windet sich bald darauf wieder empor wie eine Jugendstilranke – eine organische, vegetative Linienführung, die gleich wieder Bild, bewegtes Bild werden will. Dazu sinken Akkorde nieder, durch Septimen, Nonen und Undezimen so flauschig gemacht, dass sie in amerikanischen Radioschlagern der späten Dreißigerjahre stehen könnten oder in den Ein- und Überleitungspassagen bei den frühen Genies der Revue und des Tonfilms wie Paul Abraham, Franz Grothe oder Theo Mackeben. Man möchte sich sofort in diese Musik stürzen und in ihr untertauchen oder sie gierig auffressen, sie sich einverleiben, egal, was: Man will sie!

Rudi Stephan wusste 1915, als Achtundzwanzigjähriger, den ganzen Zauber des Anfangs zu komponieren. Wenig später fiel er als Soldat an der Ostfront im Ersten Weltkrieg, in der heutigen Ukraine. Seine Oper „Die ersten Menschen“ nach dem Skandalstück von Otto Borngräber (es wurde 1912 im Königreich Bayern verboten) hatte er aber noch vollenden können. Sie wurde am 1. Juli 1920 in Frankfurt am Main uraufgeführt, hat jedoch seitdem nur wenige Häuser gefunden, die eine Wiederaufführung wagten. Die Zurückhaltung hat vor allem mit dem verschwiemelten Libretto zu tun. Ständig wölbt und hebt sich was in den Versen, ein Ringelwurm regt sich, und die Brust, nicht nur die, entwickelt eigenen Willen.

Sebastian Weigle nimmt die Musik ernst

Es geht wirklich um die, laut biblischem Schöpfungsbericht, ersten Menschen, um Adam und Eva, Kain und Abel, die der damaligen Transliteration folgend Adahm und Chawa, Kajin und Chabel heißen. Aus dem Garten Eden sind sie vertrieben, Adahm hat bereits Erfüllung in der Arbeit gefunden, während Chawa sich nach erotischer Erfüllung und weiteren Kindern sehnt. Die Söhne sind in der Pubertät – eben die ersten Menschen, die eine Pubertät durchmachen – und entdecken ihr sexuelles Begehren. Das einzige Objekt, auf das es sich richten kann, ist die eigene Mutter. Darüber geraten sie in Streit, bis Kajin seinen Bruder Chabel erschlägt, nachdem er entdeckte, dass Chawa sich dem Bruder hingegeben hatte.

Doch Stephan hat diese Fülle und Verstörung des ersten Anfangs musikalisch betörend gestalten können. Sebastian Weigle nimmt dessen Musik in seiner letzten Premiere als Frankfurter Generalmusikdirektor ernst, geht den feinnervigen Verästelungen des Stimmgewebes nach, stützt und trägt die Singenden in ihrem Stammeln der Überforderung, in ihrer Empörung, ihrem Hingerissen- wie Ausgeliefertsein. Die Tempi haben einen natürlichen Fluss, der sich an der gesprochenen Sprache orientiert. Auch der schockierende Krach des Tötens bleibt nicht aus. Danach – eine stumm schreiende Pause des Entsetzens.

Gesungen wird genauso bezwingend. Ambur Braid, die kurz vor der Corona-Pandemie am Haus noch als Salome geglänzt hatte, singt die Chawa mit breit sich verströmender, glutvoller Sinnlichkeit, dabei auch noch deutlich zu verstehendem Text. Andreas Bauer Kanabas gibt als Adahm einen Urhelden protestantischer Arbeitsethik, getrieben vom Pathos der Sachlichkeit, gestochen scharf deklamierend, väterlich herb, doch nicht ohne Wärme im Timbre. Iain MacNeil nähert seinen Bariton timbral dem Adahms an, was im Sinne einer erotischen wie autoritativen Konkurrenz der beiden Männer auch einleuchtet. MacNeil versteht es ebenso, die Zermürbtheit des Gotteszweiflers zu gestalten wie die aggressive und eruptive Sexualität Kajins. Dagegen ist der Tenor Ian Koziara als Chabel ein Sänger der ekstatischen Erschütterung. Er strahlt und bebt laut nach seinen Visionen eines göttlichen Vaters, aber er zittert auch leise unter der Nähe seiner Mutter, möchte ihr „was antun“, bis sich beide vergessen und miteinander paaren.

Tobias Kratzer ist endzeitbesessen

Das Stück lebt vom Staunen über den ersten Anfang, über die Lust und Grausamkeit des ersten Mals. Natürlich trägt es moderne Erfahrungen an die biblische Überlieferung heran, aber ohne diese Spannung zwischen Moderne und Archaik ist es auch schwer vorstellbar. Der Regisseur Tobias Kratzer glaubte aber, das Stück „seines biblischen Tands“ entkleiden zu müssen. Gemeinsam mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier hat er das Stück in unsere Zeit verlegt, auf einen Moment kurz nach einer Katastrophe. Der erste Akt spielt im Wohnbunker einer Prepper-Familie, der zweite in den Trümmern der Zivilisation. Es sind die letzten, nicht die ersten Menschen, denen wir begegnen. Und damit wird so vieles nicht mehr stimmig. Wenn Kajin im Handschuhfach eines ausgebrannten Volvos ein Pornomagazin findet und – sensibel synchron zur Höhepunktansteuerung im Orchester – masturbiert, begegnen wir ihm als nüchternem Triebpragmatiker mit Nutzungskompetenzen der spätkulturellen Sexindustrie. Desto unglaubwürdiger ist es, dass er sich am Ende, offenbar mit der Klinge eines Gemüsehobels, den Penis abschneidet und ihn auf die Bühne wirft. Kratzer kann keine Anfänge mehr denken, er ist endzeitbesessen.

Zum Schlussapplaus kommt Sebastian Weigle aus einer Bunkerluke auf die Bühne und wird von Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef zum Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen Frankfurts ernannt. Fünfzehn Jahre, so lange wie niemand vor ihm, ist Weigle GMD in Frankfurt gewesen, hat 38 Premieren und 36 Wiederaufnahmen dirigiert und damit an über 500 Abenden im Graben gestanden. Josef, der damit sein souveränes Entree in Frankfurts Kulturleben gibt, bedankt sich bei Weigle dafür, dass er die Stadt Frankfurt national und international repräsentiert habe. Man kann getrost ergänzen: Dank Weigle und dem Intendanten Bernd Loebe konkurriert die Oper Frankfurt als überragendes Qualitätshaus heute nicht mehr allein mit Stuttgart, Hamburg oder München, sondern mit Paris, London und Mailand. Musikalisch hat es auch dieser Abend wieder bewiesen.