Opernstudio NRW mit einem turbulenten Vergnügen voller Spielwitz und vokaler Brilianz

Xl_un_giorno_di_regno_4 © Copyright: Isabel Machado Rios

Un giorno di regno Giuseppe Verdi Besuch am 9. Juni 2023 Premiere

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Unter den Augen des Maestros: Opernstudio NRW mit einem turbulenten Vergnügen voller Spielwitz und vokaler Brilianz

Eine opera buffa, die über weite Strecken und in den beiden Finali wie von GioachinoRossini komponiert klingt, aber nicht von dem Meister aus Pesaro stammt. Eine konventionelle Nummernoper in der Tradition der italienischen Musikkomödie, die in Nichts auf bevorstehende umfassende Neuerungen hindeutet. Ein Verwechselungslustspiel wie La Cenerentola, hier aus der Feder von Felice Romani, das aber nicht einem Werk von Gaetano Donizetti oder anderen Meistern zugrunde liegt, für die der bedeutende Librettist Stoffe ersonnen hat. Eine Komödie von einem Komponisten, der danach zwei Dutzend Werke im Stil der opera seria verfasst, ehe er sein Lebenswerk mit Falstaff vollendet.

Zahlreiche Besonderheiten umranken Stil und Werkgeschichte von Giuseppe Verdis Zweiakter Un giorno di regno, der 1840, zehn Monate nach dem Achtungserfolg Oberto, an der Mailänder Scala uraufgeführt und für den 27-Jährigen zu einem gravierenden Rückschlag wird. Ein Einbruch, der fast die gesamte Karriere des späteren Beherrschers des Opernbetriebs südlich der Alpen gekostet hätte. Die Wahl von Opernstudio NRW, in einer von Frische, Spielfreude und Italianatà geprägten Aufführung im Musiktheater im Revier Verdis zweite Oper zu präsentieren, lässt sich als Doppelerfolg, neudeutsch: Win-Win-Situation, beider Seiten beschreiben.

Eine Wiederbelebung des Melodramma giocoso, die in einer künftig häufigeren Berücksichtigung des Stücks in den Spielplänen nördlich der Alpen münden könnte, in denen es zu einer Rarität marginalisiert ist. Eine Bestätigung des hervorragenden Leistungsstands der jungen Sängerdarsteller zum Abschluss einer zweijährigen Phase der Weiterentwicklung ihres Könnens und ihres Rollenrepertoires. Jeder einzelne von ihnen – die Prognose sei gewagt – wird seinen Weg finden oder weiter gehen.

Die Leichtigkeit des Seins in der Tonalität und im Stück, das auf dem Pariser Boulevard-Drama Le faux Stanislas von Alexandre-Vincent Pineux Duval fußt, täuscht über die kritische Situation hinweg, die den an einer Angina laborierenden Verdi nach dem Tod seiner Tochter und seines Sohnes vor der Komposition ereilt. Dazu muss er den Verlust seiner Frau Margherita nach einer Krankheit während der Arbeit an der Partitur verkraften. Ungeachtet des Fiaskos an der Scala – die Oper wird nach der ersten Aufführung vom Spielplan abgesetzt – besteht Scala-Direktor Bartolomeo Merelli auf Einhaltung eines Vertrages über drei Kompositionen, den er mit Verdi abgeschlossen hat. Es gelingt ihm, den am Boden zerstörten Verdi für die Komposition von Nabucco auf ein Libretto von Temistocle Solera zu gewinnen, was den Künstler vor einer Depression bewahrt und ihm einen bahnbrechenden Erfolg verschafft.

Das schwache Textbuch – ursächlich für einen Teil von Verdis Misserfolg – konstruiert eine Verwechselungskomödie in der Bretagne im Jahr 1733 auf der Folie einer Palastintrige. Mit ihr will Ludwig XV. erreichen, dass der abgesetzte König von Polen, Stanislaus I. Leszczyński, unbemerkt aus seinem französischen Exil nach Warschau gelangen kann. So soll verhindert werden, dass die polnische Königskrone an den Sohn Augusts des Starken fällt. Im Stück schlüpft der Cavaliere Belfiore im Schloss des Barons Kelbar nur allzu gern in die Kleider des polnischen Königs.

Der Tag, an dem Belfiore sich als Regent fühlen darf und entsprechend aufführt, ist zugleich der Zeitpunkt einer geplanten Doppelhochzeit. Giulietta, Kelbars Tochter, soll den Schatzmeister La Rocca heiraten. Die Marchesa del Poggio, die verwitwete junge Nichte des Barons, will den Grafen Ivrea ehelichen, weil sie sich von Belfiore, ihrem Verlobten, verlassen glaubt. Beide Allianzen befinden sich auf unsicheren Füßen, da beide Bräute mit ihren Partnern in spe nicht zufrieden sind und die Marchesa und Belfiore sich heimlich lieben. Als falscher König Stanislaus unternimmt der Cavaliere wiederum alles, um die Hochzeiten zu verhindern. Die Verwicklungen entwirren sich am Ende, als das Schloss die Nachricht des Hofes erreicht, dass Stanislaus Leszczyński in Warschau angelangt ist. Belfiore darf als König „abdanken“. Nachdem er seine wahre Identität zu erkennen gibt, steht seiner Hochzeit mit der Marchesa nichts mehr im Wege.

Roman Hovenbitzer, Leiter Szenisches Spiel am Gelsenkirchener Haus, hat als Schauplatz für die Komödie die Casa di riposo per musicisti, das von Verdi gegründete Altersheim für Künstler in Mailand, gewählt, in dessen Kapelle Verdi nach seinem Tod in einer Gruft bestattet wird. Eine zweite Brücke schlägt der Regisseur zum 80-jährigen Verdi und seinem Falstaff. Georg Hansen spielt diesen alten Herrn, setzt in einem fiktiven witzigen Dialog mit den Musikern im Orchestergraben die eigentlich geplante Aufführung ab, damit Un giorno di regno gegeben werden kann.

Hermann FeuchtersBühnenbild gelingt die Imagination der Casa di riposo per musicisti famos. Attraktionen sind das Theaterchen im Bühnenhintergrund und der Flügel rechts am Bühnenrand, von dem aus der Maestro Secco-Rezitative begleitet, wobei die wirklichen Töne aus dem Graben nach oben dringen. Das kleine Theater kann sich nach vorn und hinten bewegen und so multiple Auftrittsmöglichkeiten eröffnen. Künstlerbilder und ein stattlicher Kronleuchter unterstreichen den Charakter des besonderen Refugiums.

Wird die Bühne hochgefahren, wird der Blick frei auf ein tieferliegendes Geschoss, teils Künstlergarderobe, teils Kostümmagazin, teils Liebesnest, wo zum Lieto fine Belfiore und die Marchesa in die Kissen fallen. Hansen alias Verdi greift über eine Treppe in das Geschehen ein, weckt während der Ouvertüre den schlafenden Belfiore, damit dieser seinen Rollenwechsel hin zum polnischen König nicht verpasst. Das aufmerksame Lichtdesign von Mario Turco sorgt dafür, dass die wechselnden Ebenen szenengerecht ausgeleuchtet werden. Theateraffin muten die Kostüme aus Steppstoffen von Johanna Ralser an, die der Falstaff-Uraufführung an der Mailänder Scala entlehnt sein könnten.

Im Übrigen lässt Hovenbitzer dem turbulenten Charakter der Buffa ihren Lauf, setzt auf die phantasievolle Ausstattung und gibt großzügig einigen spritzigen Einfällen auch dann die Priorität, wenn sie quer liegen zu der Handlung, die ohnehin wenig Anspruch entwickelt, ernst genommen zu werden.

Musikalisch ist die Produktion von Opernstudio NRW, das von den vier kooperierenden Musiktheatern Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Wuppertal getragen wird und talentierten Sängern den Übergang vom Studium zur Berufswelt unterstützen will, ein reines Vergnügen am Übergang von der traditionellen Buffa zum Belcanto. Die Neue Philharmonie Westfalen mit Giuliano Betta am Pult spielt sich in eine exquisite Abendform, mit einem sensiblen Gespür für den Quasi-Rossini-Stil einerseits, für die neuartigen Orchesterfarben anderseits, die später zum Markenzeichen Verdis aufsteigen werden. Der Opernchor, einstudiert von Alexander Eberle, imponiert durch Spielwitz und beste Musikalität vor allem in den unisono-geführten Wiederholungen von gefälligen Solo-Melodien.

Die Sängerbesetzung kennzeichnet ein tiefes Grundverständnis für den italienischen Spirit und die fließenden Kantilenen Verdis. Der Tenor Benjamin Lee ist als Edoardo di Sanval die herausragende Stimme des Abends Seine Rolle als Adjutant und Bittsteller ist zwar die eines dienstbaren Geistes im „zweiten Glied“. Dafür aber „revanchiert“ sich Lee mit einem ausnehmend schönen Timbre, einer sinnlichen Mittellage und einem vokalen Schmelz, der eine Belcanto-Karriere verspricht. Hier reift ein künftiger Rossini-Tenor heran, prädestiniert für Graf Almaviva oder Don Ramiro.

Als Cavaliere Belfiore hat Oleh Lebedyev, derzeit auch als Mr. Bosun in Billy Budd von Benjamin Britten im MiR unterwegs, zwar durch seine Doppelrolle die größte Bühnenpräsenz dieser Aufführung, nutzt sie auch durch kraftvolles Spiel, kann aber diesen Vorteil stimmlich nicht voll ausspielen. Die Tessitura des Baritons ist durchaus eindrucksvoll. Die Stimme hingegen braucht noch Feinjustierung, um ein schon hörbares Abrutschen in ein überziehendes Vibrato zu vermeiden. Als weiblicher Part des Liebespaares gestaltet Heejin Kim, die dem Publikum noch als Marie in Friedrich Smetanas Oper Die verkaufte Braut in bester Erinnerung sein dürfte, die Rolle der Marchesa mit ihrem geschmeidigen Sopran und souveränen Koloraturen formidabel. Unter den weiteren Mitgliedern des Opernstudios präsentieren sich Yisae Choi als Schatzmeister La Rocca und Bogil Kim als Graf Ivrea sängerisch wie spielerisch ansprechend.

Zwei der Sängerdarsteller zählen zum Ensemble des MiR. Als Giulietta ist Lina Hoffmann eine vorzügliche Besetzung. Die Mezzosopranistin verfügt über Ausdruckskraft in allen Registern, Koketterie im Spiel und die robuste Art, die selbstbestimmte Frauen in der italienischen Oper auszeichnet. Leider ist ihr – auch wegen ihrer Körpergröße - nicht das spielerische Charisma zu Eigen, das beispielsweise in den Donizetti-Rollen Norina und Adina geschätzt wird, wofür sie früher oder später gleichwohl angefragt werden dürfte. Der Bass Yevhen Rakhmanin verleiht Kelbar die Giocoso-Attitüde, die die Bühnenfigur des Barons auszeichnet. Wie gut das junge Ensemble harmoniert, beweist es insbesondere im Sextett des ersten Aktes, das vom Publikum wie etliche weitere Auftritte mit Zwischenbeifall quittiert wird.

Die „Visitenkarte 2023“ des Opernstudios NRW im leider nur gut zur Hälfte belegten Haus lässt für die Zukunft hoffen. An Talenten mit Können und Perspektiven scheint kein Mangel. Das Publikum und die Kulturpolitik müssen nur wollen.

Dr. Ralf Siepmann 

Copyright: Isabel Machado Rios

 

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