Sciarrino in Hamburg :
Der Schöne steckt im Biest

Von Jürgen Kesting
Lesezeit: 4 Min.
Krank vor Begehren: Venus (Layla Claire)
Wenn ein Tier aus Liebe tötet: Die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos neuer Oper „Venere e Adone“ in Hamburg provoziert und betört zugleich.

Über die Stoffwahl einer Oper schrieb Richard Wagner: „Das Unvergleichliche des Mythos ist, dass er jederzeit wahr, und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.“ Der Mythos der Göttin Venus und des unirdisch schönen Adonis ist mannigfach zum Opernthema geworden. Hans Werner Henze ging es bei seiner 1997 in München uraufgeführten Oper um die „Verwandlung von Archetypen unseres seelischen Haushalts: mit einem apotheotischen lieto fine als Provokation durch Schönheit“. Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino kündigt im Untertitel von „Venere e Adone“ hingegen den Schiffbruch eines Mythos an. Das jüngste von Sciarrinos zahlreichen Werken für das Musiktheater wurde von der Hamburgischen Staatsoper in Auftrag gegeben und in einer Inszenierung von Georges Delnon, dem Intendanten, unter der Leitung von Kent Nagano uraufgeführt.

Den elaborierten Stil von Giambattista Marinos „L’Adone“ und den galanten Stil von Watteaus „Einschiffung nach Kythera“ nennt Sciarrino als Anregung für seine Dekonstruktion des Mythos von der unglückseligen Verbindung der Göttin Venus mit dem göttlich schönen Hirten Adonis. Wie ist das galante Bild des von zwei weiblichen Grazien verlockten Hirten Adonis zu verstehen: als Ankunft auf einem locus amoenus oder als Abschied, als Versprechen von Glück oder von Tod? Anders als bei Henze gibt es keine Apotheose, sondern tiefen Zweifel: „Wenn die Liebe siegt, verzehrt sie uns alle.“

Ungeheuer aus dem Schlamm

Im Libretto Sciarrinos (Ko-Autor: Fabio Casadei Turroni) wird aus dem Eber, der Adonis zerfleischt, eine neue Figur, die schon im Prolog angekündigt wird: Il Mostro. Das im Schlamm vegetierende Ungeheuer, das „weder Zuneigung noch Liebe kennt“ (Prolog), wird nicht nur zum Instrument göttlicher Rachsucht an Adonis, dem „Monster der Schönheit“, sondern in einer Art von Identitäts- und Seelentausch zu einem liebenden Wesen: „Ich werde auf ewig eine Blume sein und von Liebe sprechen.“ Diese seelisch-verschlungene Geschichte erschließt sich erst aus dem Finale der kurzen Oper – Prolog, vier Teile mit sechs Szenen und Epilog in siebzig Minuten –, wenn sich die Figuren auf der Bühne versammeln. Mahnend-fragend wendet sich der Chor ans Publikum: „Wer triumphiert, Liebe oder Tod? Wenn die Liebe triumphiert, zerreißt sie uns alle, die Schönen und die Hässlichen.“

Delnon und Varvara Timofeeva (Bühnenbild) situieren das verwirrende Geschehen in phantasmagorischen Traum- und Albtraumlandschaften, worin Nebel wallen und düstere Wolken treiben. Das Bühnenbild begnügt sich mit wenigen Chiffren – etwa der des Jägers mit Pfeil und Bogen. In den Göttern verkörpern sich allzu menschliche Schwächen. Wenn Vulcanus, Gatte der Venus, den Kriegsgott Mars, den Lover der Venus davor warnt, dass er wiederum von einem schönen Jüngling „überlistet“ werde, protzt er mit der Kraft seines „göttlichen Samens“. Und wenn Mars den Amor – ausgestattet mit einem Taststock als Chiffre für Blindheit – dazu bringt, einen Liebespfeil in den Köcher des Adonis zu stecken, ergeht sich der Liebesgott im zynischen Geträller über seine Allmacht.

Explodierende Stille

In seinem Leben habe er sich immer bemüht, sagt der Komponist, „die Stille zu verstärken“ – eine Stille, „die explodieren kann“. Das Geschehen spielt in einem Klangraum, in dem die einzelnen Instrumente wie aus einem Grundrauschen herausblitzen und -leuchten. Die Gruppen der Streicher sind schlank besetzt (jeweils sechs Geigen, vier Bratschen und Violoncelli, zwei Kontrabässe), die „Percussioni“, insgesamt vierzehn, vierfach. Wieder und wieder findet sich die Vorschrift für ein „crescendo dal nulla“, dem ein „diminuendo dal nulla“ folgt, also ein An- oder Abschwellen der Lautstärke von oder zur Stille. Für jedes Instrument, jede Klangfigur, die Unzahl von Trillern gibt es minutiöse Ausführungsvorschriften. Es sind feinste Klanggespinste, bei denen selbst Anblasgeräusche einen Eigenwert bekommen.

Das Hamburger Orchester zeigte sich glänzend vorbereitet auf die Herausforderungen auch der diffusen Geräusche, die im Verlauf der siebzig Minuten die Kraft eines Sogs entfalten. Charakteristisch ist für die Gesangsparts, dass Phrasen wie aus dem Nichts des Pianissimo entstehen und in die Stimme zurückkehren. Dem Komponisten geht es, wie im Programmheft zu lesen, um Stimmen, „die sich biegen und Klänge miteinander verbinden“ zu einer gleitenden Artikulation von Silben. Lang gehaltenen Crescendo-Diminuendo-Tönen folgen silbische Parlando-Passagen und Repetitionen, aber ohne virtuose Melismen.

Ein suggestives Beispiel ist die zweite Szene: ein Liebes-Duettino der Protagonisten, durch eine Art von Affektgestammel ins Parodische gewendet, prägnant und mit Verve gesungen von der kanadischen Mezzosopranistin Layla Claire und dem kraftvoll klingenden amerikanischen Countertenor Randall Scotting. Glitzernd pointiert der helle Sopran von Kady Evanyshyn in der Rolle des fröhlich-bös-artigen Amore, trefflich Matthias Klink als grotesker Mars. Das Monster, mit dem Bassbariton Evan Hughes eindringlich besetzt, tritt zunächst nur akustisch in Erscheinung: als körperlose, elektronisch verfremdete Stimme. Erst in der Jagdszene, wenn von Adonis mit dem Liebespfeil – als stroboskopischem Blitz – getroffen, nimmt er Gestalt an und zerfleischt, „oh, ich muss ihn küssen“, das Gesicht und den Körper des Adonis. Er wird von Venus, „du hast es aus Liebe getan“, besänftigt und verwandelt sich in einen neues Adonis. Eine verwirrend-provokative Mythenklitterung voll bitterer Tristesse.